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Full text of "Leben des berühmten Tonkünstlers Heinrich Wilhelm Gulden (Neudruck)"

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Johann Friedrich Reichardt 

LEBEN 

des beriihmten Tonkiinstlers 

HEINRICH WILHELM GULDEN 

nachher genannt 

Guglielmo Enrico Fiorino 



1967 
INSEL-VERLAG- LEIPZIG 



HeinrichWUhelm Gulden, dessen Leben ich hier beschreibe, 
war der Sohn ernes gemeinen Musikanten in Thorn, der die 
Kunst zum niedrigsten, verachtlichsten Gewerbe herabwiir- 
digte, dem Bierschenker durcli den mutigen Strich seines Bo- 
gens und den hellen Klang seiner Geige Gaste verschaffte und 
den Gasten Mut und Lust zum Soffe. 

Dieser Mann, dem es nicht an natiirlichen Fahigkeiten, 
auch eben nicht an Giite des Herzens, wiewohl ganzlich an 
Erziehung und Ausbildung fehlte, zeugte im Jahre 1736 am 
l.Marz einen Sohn und hieB ihn Heinrich Wilhelm. Sein er- 
ster Wunsch, da er den Knaben sah, war dieser, daB ihm Gott 
gesunde Finger und Lust und Liebe zur Tonkunst schenken 
mochte. Der Wunsch ward erfiillt, der Knabe hatte gesunde 
Finger, ein gutes Ohr und im dritten Jahre schon Lust und 
Liebe zur Tonkunst- Wie konnte das anders sein? Das erste 
Schreien des Knaben ward durch Gesang und durch den Ton 
der Geige in Lacheln verwandelt; das erste und einzige SpieL 
zeug des Knaben war eine Pf eif e und eine kleine Geige. 

Die Beschaftigung des Knaben mit seiner Geige und Pf eife 
wurde fur uberwiegenden Hang, fur Bestimmung von Oben 
zur Tonkunst erklart. Es ward also bestimmt, er sollt' ein 
Tonklinstler werden, und zwar — nach dem gemeinen Hange 
der Eltern, aus ihren Kindern etwas mehr zu machen, als sie 
selbst sind, und sich dadurch noch in ihren Kindern zu er- 
heben — ein Virtuose. 

Im vierten Jahre fing der Vater an, seinen Sohn in der 
Geige zu unterrichten, und erstaunte nicht wenig, daB der 
Knabe das, was er ihm vormachte, oft eher nachmachte, ehe 
er es ihm noch erklart hatte. Denn der gute Mann wuBte 
nicht, daB ein Kind nur durch sinnlichen Eindruck und nicht 
durch Beweise und Erklarungen etwas faBt; daB ein Kind 
das, was es sieht und hort, weit eher behalt als das, was man 
ihm sagt; am wenigsten, wenn man's ihm so sagt, wie die 

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mehresten Eltern mit den Kindern reden und wie sie nur re- 
den konnen. 

Es liegt auch hierin der Grund, daB einige Lehrmeister so 
vorziiglich geschickt im Unterricliten der Kinder sind. Sie ha - 
ben die Gabe, den Kindern alles sinnlich darzustellen, dem 
Aug 9 und Ohr durch Bilder, durch Beispiele alles so deutlich, 
30 begreiflicli zu machen, daB sie gar nicht daran denken diir- 
f en, den Verstand des Kindes zu beschaftigen. Ich babe einen 
Mann von vieler gesunden Vernunft gekannt, der hatte die 
Gewohnheit, wenn er fiir seine kleinen Kinder einen Lehr- 
meister suchte, so sah er, wie er den ihm schon empfohlnen 
Mann zuerst auf der StraBe antraf , und fragte ihn dann un- 
erkannt urn Zurechtweisung nach einer entfernten StraBe. 
Konnte dieser ihm, ohne viele Miihe, das so recht deutlich 
machen, so war's sein Mann zum Unterricht seiner Kinder. 

Es gibt auch Lehrmeister, die durch ihre eigne Unfahig- 
keit, durch Mangel an deutlicher Erkenntnis der Sache, die 
sie lehren, gute Lehrmeister fiir Kinder sind. Denn sie sind 
gezwungen, den Kindern alles sinnlich vorzustellen; gezwun- 
gen, allerlei Bilder aiifzusuchen und sie verschiedentlich ne- 
beneinanderzustellen. Einen andern Weg kennen sie nicht. 
Deutliche Erklarungen und Beweise konnen sie nicht geben, 
weil sie selbst die Griinde und Ursachen nicht wissen, w r enig- 
stens nicht deutlich erkennen. Dies ist oft die Ursach, warum 
mancher w^enig gelehrte Kandidat in den Dingen, die er ge- 
faBt und behalten hat, ein besserer Lehrer fiir Kinder ist als 
mancher Mann von groBer Gelehrsamkeit und geringer 
Kenntnis des Menschen. 

In jenem Fall befand sich denn auch der Vater unsers Hein- 
rich WLlhelm Gulden. Er hatte nicht die geringste griindliche 
Einsicht in die Tonkunst und war also gezwungen, seinem 
Sohn alles durch die Augen und Ohren beizubringen. Und 
wenn er hernach mit seinen kauderwelschen Erklarungen 

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hinterdreinkam, so hatte es der Knabe zu seinem groBten Er- 
staunen schon begriff en, ohn' ihm dock ein Wort davon gesagt 
zu hob en. 

Dieses machte unsern Knaben bald zum Wunder der Stadt. 
Der Vater beteuerte einem jeden, sein Sohn hab' alles von sich 
selbst, er hab' ihm nicht das geringste gesagt, nicht das ge- 
ringste gezeigt. 

Es ist wahr, er hatte ungemeine Fahigkeiten, oder be- 
stimmter zu reden, er hatte sehr scharf e und feme Sinnen und 
vorziiglich ein sehr femes Gehor. Dem Manne, der nicht Ein- 
sicht genug hatte, zu erkennen, wie unverniinftig es von El - 
tern gehandelt ist, ihr Kind ehe zu etwas Gewisses zu bestim- 
men, ehe nicht die hoheren Seelenkrafte sich in ihm entwik- 
kelt haben, dem war es wohl zu verzeihen, daB er zu einer 
Zeit, da Sinne das ganze Eigentum des Kindes waren, ein 
Ge^verbe flir den scharfsten und feinsten Sinn des Kindes 
wahlte. 

Wie toricht und unverantwortlich handeln aber nicht die 
Eltern, die selbst Einsicht genug besitzen oder doch Fahig- 
keit und Gelegenheit haben, sich diese Einsicht zu erwerben, 
oder wenigstens einen verstandigen Freund oder Obern ha- 
ben, der ihnen raten konnte, wenn diese schon in den ersteh 
Jahren der Kinder, aus niedrigen, eigenniitzigen, ehrgeizigen 
Absichten oder auch wohl, ohne selbst zu wissen, waram, ein 
Qewexhe fur sie wahlen, das sie entweder nicht erfiillen oder 
das ihre Bestimmung nicht erf iillt. 

Mir tut es im Herzen wehe, wenn ich Mnen Menschen sehe, 
den die Vorsehung mit den hochsten Gaben des Geistes, mit 
groBer Giite des Herzens zu einem v^^ohltatigen Werkzeuge 
ihrer Giite ausgeriistet, wie dieser, durch seine Erziehung 
miBleitet, sein Leben in eitlen, lappischen Tandeleien oder 
wohl gar in niedrigen Beschaftigungen hinschlendert, wohl 
gar so verwahrloset ist, daB er auch des zuf alligen Guten, das 

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er auBer seinem eigentliclieii Gewerbe noch stiften konnte, 
nicht einmal fahig ist ! 

Und wenn icli dann wieder einen elenden Mensdien sehe, 
der weder hohe Gaben des Geistes noeli Giite des Herzens be- 
sitzt, den man nur an der aufgerichteten Gestalt fur einen 
Menschen erkennt, wenn der fur die Welt ebenso miBleitete 
Mensch die Bestimmung jenes zu groBen Taten gebornen und 
erstickten Menschen erfiillen soil! — 

Nicht umsonst gerat' ich hier bei der Bestimmung unsers 
Knaben in Eif er. Man wird in der Folge sehen, wie sehr der 
unwissende Vater die wahre Bestimmung seines Kindes ver- 
fehlte. 

Im secbsten Jahre, da andre Kinder sich im Lesen und 
Schreiben uben, konnte unser Knabe alle Polonoisen und Me- 
nuetten, auch englische, schwabische, steirische und kosaki- 
sche Tanze spielen. Anstatt daB andre Eltern f iir ihre Kinder 
Schulgeld bezahlen, brachte dieser sclion oft der Mutter heim- 
licb vier Groscben von den acht Groschen mit, die ihm die 
lustigen Tanzer im Wirtshause* mit Lobeserbebungen von 
tausend Fliichen begleitet, in die rote Geige warfen. Heim- 
lich, denn es batte ibn schon mancbmal weinen gemacht, daB 
der Vater nicht selten so grausam gegen die arme Mutter 
war, sie Hunger leiden zu lassen und oft mit Schlagen zu 
miBbandeln. Sie war eine so gute Frau, daB sie oft mit Tra- 
nen eine halbe Stunde Ruhe fur den armen Jungen erbat, 
wenn er scbon vier, fiinf Stunden unaufhorlich die Geige 
hatte spielen miissen, und zuweilen in Tranen und Gebet fur 
ihn ganze Nachte durcliw r achte. 

Er gab also der guten Mutter von dem verdienten Gelde 
stets so viel, als er nur vor seinen Vater verheimlicben konnte, 
und unterlieB dieses nie, ob er scbon einigemal derb dafiir 
vom Vater war abgepriigelt w r orden. Ward's der Vater aber 
gar nicht gewahr, daB die Gaste Geld in seine Geige geworf en 
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liatten, so wurde denn auch wohl ein Teil zu Naschereien an- 
gewandt. Doch muBte ihn auf dem Wege zum Backer kein 
Bettler begegnen, denn er hatte dasBeispiel oft an seiner Mut- 
ter gesehn, daB es suB sei, den Notleidenden wohlzutun. 

Auch konnte der Vater seinen Sohn in der Musikanten- 
bande sclion fiir eine ganze Person rechnen; und daher sah er 
ihn bereits als ein sicheres Kapital an, von dessen Zinsen er 
kiinftig seinen Leib pflegen wollte, und hielt ihn wie sein 
eigenes Aug' im Kopf e, das er zwar oft durch Bier und Wein 
rotete, es auch oft im Taumel bleuete, aber nichtsdestoweni- 
ger bei niichternem Mut fiirs Lesen niitzlicher, guter Biicher 
und fiir Tranen iiber sein Elend und das Elend anderer sorg- 
f altig hiitete. 

So lebte nun der junge Gulden seine Tage in der gleich- 
formigsten Unordnung hin. Des Morgens, wenn der Vater 
um eilfe erwachte, weckte er seinen Sohn und brachte ihm 
eine Tasse dicken Kaffee ins Bette. Dann reckte er ihn die 
Finger, damit sie fein lang werden sollten. Drauf muBte er 
schnell aus dem Bette springen, die Geige ergreifen und bis 
drei Uhr nachmittags unablassig spielen, um sich zur Mahl- 
zeit dies oder jenes saure oder sxiBe Essen oder siiBen Wein 
oder fiir die Mutter ein Paar Schuh oder einen Rock zu ver- 
dienen. 

Dies letzte war wirklich das starkste Zwangsmittel fiir ihn, 
und das um desto mehr, da der Vater von des Sohnes Liebe 
zur Mutter den kliigsten Gebrauch machte und ihr schlech- 
terdings nichts gab, was sie nicht durch seinen FleiB erhielt. 
Daher hatte dieser denn auch die Belohnung, daB, sooft die 
Mutter jenen Rock, jene Schuh anhatte, es alien Anwesenden 
mit groBem vollen Maul in seiner Gegenwart verkiindigt 
wurde: Diesen Rock, diese Schuhe habe Heinrich der Mutter 
geschenkt. 

Konnte er dann aber nachmittags gar nicht mehr den Arm 

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bewegen, so bekam er das Essen, welches oft schon drei Stun- 
den in einer zinnernen Schussel oder im kupf ernen Kessel am 
Feuer gestanden hatte. Unterdessen der Vater mit ihm aB, 
wobei sie beide schweres Bier tranken, muBte die Mutter Kaf - 
fee fur den Sohn kochen. War dieser heiB verzehrt, so muBte 
er wieder die Geige ergreifen und unablassig bis acht Ulir 
spielen; alsdenn puderte ihn der Vater die Haare, zog ihm 
den pluschnen Rock an, den ihm ein alter abgedankter Lieute- 
nant einmal im trunkenen Mute von seinem Leibe gegeben; 
und war es Sonntag, auch noch die rote Weste dazu, die ihm 
der Vater mit unechten goldnen Tressen hatte besetzen las- 
sen, nebst Manschettenarmeln; und war es erster Feiertag, 
gar noch ein reines Hemde. 

Zwischen acht und neun Uhr des Abends ging er nun mit 
seinem Vater ins Wirtshaus oder auf die Hochzeit oder auf 
einen Korinthenball und strich da seine Geige, die ihm der 
Vater unter dem Rocke hingetragen hatte, bis zum Anbruch 
des f olgenden Tages. Hier sah' er nun alle die lustigen Ranke 
und Schwanke, alle die niedrigen, ausschweifenden Zeitver- 
kiirzungen und wolliistigen Handlungen niedertrachtiger 
Kerle und schandlicher Weibsleute. 

Seine gute, fromme Mutter suchte ihn zwar einen Abscheu 
und Schrecken dawider einzuflofien, indem sie ihm in der 
Einfalt ihres Herzens oft versicherte, daB darauf ewige Hol- 
lenstrafen folgten. Was konnte das aber bei einem Kinde w r iir- 
ken, das keinen Sinn fur die Zukunft hat, keine Erkenntnis 
von Moralitat oder Unmoralitat der Handlungen anders als 
durch gegenwartige Wtirkung erlangen kann, was konnte das 
gegen den sinnlichen Eindruck tun! Selbst die dem Kinde 
schon naher liegenden Griinde von notwendig drauf folgen- 
der Krankheit und Gewissensunruhe hatten nichts gegen den 
lebhaften und oftern sinnlichen Eindruck vermocht. Und 
wenndenn auch jene Vorstellung der Mutter, oder vielmehr 

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der hohle angstliche Ton, mit dem sie's sagte, und der ausge- 
streckte Zeigefinger nach dem gliilienden Of en einigen Ein- 
druck auf dem Knaben machte, so konnte ihn dieses varolii al- 
lenfalls die plumpen, ekelhaften, abscheulichen Streiche des 
Fleischhackers oder Windmiillers weniger schadlich machen; 
die feinern und um soviel gottlosem Streiche des Friseurs 
oder Balbiers blieben ilim dennoch ebenso gefahrlich und an- 
steckend. 

Wenn endlich die Gaste teils f ortgetaumelt, teils unter den 
Tischen und Banken eingeschlafen waren, so leerten die Mu- 
sikanten, wenn sie noch vermogend dazu waren, die herum- 
stehenden Neigen von Bier und Branntewein, wovon dann 
unser Knabe auch sein bescheiden Teil bekam. Nachher tau- 
melte er mit seinem Vater ins Bette und erwartete, durch 
den dampf enden Kaffee in der Hand desselben von schweren, 
angstlicben Traumen zu einem aJhnlichen Tage ge^veckt zu 
iverden; und das geschah dann Avieder so sicber um eilf Uhr 9 
als gewiB die Sonne um vier Uhr aufging; es miiBte denn 
den Abend vorher ein besonders wiclxtiges Gelag in der 
Schenke oder Herberge gewesen sein, wovon dann die Musi- 
kanten gemeiniglieh so voller Beulen und Wunden nach 
Hause krocben als die Gaste selbst. Denn es war besonders 
unter den Fleiscbhackern gebraucblicli, thre groBen Gelage 
damit zu beschliefien, daB sie am Ende die Licbte ausloscbten 
und mit Stuhlen und Banken und Tischen und Kriigen blind- 
lings aufeinander zuschlugen, bis so einer nach dem andern 
die Tiire fand und das Feld raumte; dies behielt gewohnlich 
der Wirt als der gefahrlichste Feind in der Schlacht. Er war 
einst selbst Fleischhacker gewesen und hatte sich nun, des 
Wiirgens und Totschlagens miide — denn sein Bauch wurde 
zu stark — , als Gastwirt und Herbergs vater zur Ruhe bege- 
ben. Bei solchen groBen, wilden Gelagen pflegte er sich bei 
guter Zeit — gemeiniglieh schon beim zwolften Kruge Bier — 

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allgemach zu entfernen und sein schweres Haupt zur Ruhe zu 
bringen/ Horte er aber den letzten wilden Larmen, den 
FleischhackernachtgruB,beginnen, dann pochte ihm das Herz, 
er konnte sich langer nicht halten, nahm eine Bettstolle oder 
einen Ochsenziemer, den er noch als Ehrenzeichen iiber sein 
Bette hangen hatte, und eilte in den streitenden Haufen, 
schlug aus Leibeskraften mit darunter und empfing auch wie- 
der Hiebe die Kreuz und die Quer. War ihm das Feld ge- 
raumt, dann hinkte er wieder der Schlafkammer zu; fragte 
ihn als dann sein Weib, wo er g ewes en, so antwortete er ganz 
kalt: »Eck was enn beeten met dermank schloagen.« 

Solche Schlachten lief en denn auch nicht ganz fruchtlos fur 
die Musikanten ab. Gemeiniglich begann der Tumult ur- 
plotzlich; Nacht und Sturm brachen so schrecklich herein, daB 
die zwischen dem Ofen und dem Branntweinspinde einge- 
klemmten Spielleute nicht schnell genug ihre Werkzeuge zu- 
sammenraff en konnten. Da krochen sie dann hinter die groBe 
BaBgeige, die konnte aber nicht alle f assen, sie rissen sich dar- 
um, daB die schon jahrelang einsam tonende BaBsaite, die 
lange schon keine mittonende Gehiilfin neben sich vernahm, 
mit sturmglockenlachtigem Getose erschallte. Dieser verra- 
terische Schall zog denn gemeiniglich das Getiimmel der 
Schlacht nach diesen Winkel, und nun hieben alle auf die fur 
tot daliegende Geiger und Pf eif er. 

Hatte nun der alte Gulden nicht beizeiten die Vorsicht ge- 
braucht, seinen Sohn hinter dem Ofen zu stecken oder ihn in 
seinen ungarischen Pelz hinter sich einzuknopfen, daB man 
seine klagende Stimme nicht deutlich genug vernahm, so rich- 
tete der ergrimmte Dermankschlager seine besten Schlage auf 
den armen Knaben. Denn der hatte einst seinen zehnjahrigen 
Jungen, da dieser sich die Hande beschmiert und die Mutter 
ihm zurief : »Wisch dich an die Musikanten ab«, und er sich 
am sichersten glaubte an den siebenjahrigen Heinrich Wil- 

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helm Gulden wischen zu konnen, so gewaltig hinter die Oh- 
ren geschlagen, daB ihm das Blut aus Nas 7 und Maul gestiirzt. 

Nach einem solchen groBen wichtigen Gelage, bei dem sich 
die Schlacht auch hinterm Ofen gezogen, brachte denn der 
alte Gulden mit seinem Sohne den folgenden Tag im Bette zu 
und rieb sich die Glieder mit Kampfer und Branntwein, den 
er beim Einreiben nicht selten beseufzte und seufzend ver- 
schluckte. 

In dieser Lebensart verflossen die kostlichsten Jahre unsers 
f ahigen Knaben, der es in seinem achten Jahre schon wiirk- 
lich zu einer bewundernswiirdigen Fertigkeit auf der Geige 
gebracht hatte. Er spielte selten eine Menuett nach der Vor- 
• schrift, sondern veranderte selbige oft mit groBen Schwierig- 
keiten, zuweilen auch, und das gemeiniglich fur sich allein, 
mit groBer Annehmlichkeit und Simplizitat. Doch hatte er 
eine auBerordentlich simple und schone Menuett, die er samt 
der herrlichen Melodie des Liedes : >Es ritten drei Reuter zum 
Tor hinaus< hiemals veranderte. »Es sind gar zu schmucke 
Dinger «, pflegte er zu sagen. 

Es war einst an einem Sonntage, daB er bei dem Burge- 
meister der Stadt spielte und uber einer elenden Menuett eine 
recht schone Veranderung machte. Man wollte die Verande- 
rung gern aufs Papier haben, und es wurde Dinte und Feder 
gebracht; da ergab sich's aber, daB der arme Junge, der nun 
bald neun Jahre alt war, nicht die Feder zu halten wuBte. Er 
malte indessen, die Feder in der vollen Hand haltend, seine 
Veranderung, zwar mit einigen Fehlern der Vorzeichnung, 
aber doch mit vollig richtiger Taktabteilung, zum Erstaunen 
ajler Anwesenden hin. 

Auf das Zureden der andern lieB der Vater ihn nun von 
einem armen Kandidaten lesen und schreiben lehren, setzte 
dazu eine Stunde sonntags vormittags von zehn bis eilfe fest, 
damit nichts in der Hauptsache, der Geige, versaumt wurde, 

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und gab dem Kandidaten sechs neue Menuetten und sechs 
Warschauer Polonoisen daftir, die dieser schon langst gern zu 
haben gewiinscht, wofiir der alte Gulden zeither aber einen 
Taler und zwolf Groschen verlangt hatte. 

Auch schrieb der lehrbegierige Knabe seinem neuen Lehrer 
alle englische und schwabische Tanze heimlich auf , damit er 
ihm nur ein wenig mehr rechnen lehren und Geschichtbiicher 
zu lesen geben mochte. 

An einem Sonntage des Morgens aber, da der Kandidat 
eben eine schwere Auf gabe, die der Knabe ausgerechnet hatte, 
durcbsab und dieser wahrenddessen seinem Lehrer die 
neueste, letzte Polonoise aufschrieb, fugte es sich, daB der alte 
Gulden, der sonst noch immer sonntags wie wochentags bis 
eilfe im Bette lag, dazukam. AuBerst erziirnt jagte er den 
Kandidaten sogleich aus dem Hause, mit dem Verbot, nie 
wiederzukommen, und den Knaben priigelte er fur den Un- 
verstand, gute Stiicke an andere zu geben, wacker ab. 

Der arme Junge, der mit auBerordentlicher Geschwindig- 
keit und Scharfsinn das Rechnen geubt, die alte griechische 
und romische Geschichte mit brennender Begierde studierte 
und oft halbe Nachte, bei zusammengestohlnem Lichte, Le- 
benslaufe beriihmter und groBer Manner gelesen hatte, wurde 
nun seines Lehrers und Biicherversorgers beraubt. Zur Not 
lesen, seinen Namen schreiben und den Gewinst von der 
Hochzeit zusammenrechnen zu konnen, hielt der Vater fur 
hinlanglich. Alles iibrige, meinte er, beschwere nur unnoti- 
gerweise den Kopf des armen Kindes und hielte ihn von der 
wichtigsten Beschaftigung, der Geige, ab. »Franzosisch, Fran- 
zosisch sollst du mir lernen, sobald nur des Herrn Sprach- 
meisters achtjahriges Tochterchen ein biBchen groBer ist, daB 
du ihr wieder die Geige dafiir lehren kannst.« 

Des Knaben Geschieklichkeit in der Geige fing wirklich an, 
wichtig fiir den Vater zu werden. Der Biirgermeister, der 

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selbst die Geige spielte, hatte ihm damals zur Belohnung fiir 
die aufgeschriebene Veranderung zwei der schwersten Kon- 
zerte und zwei Solos fiir die Geige gegeben: Und in drei Mo- 
naten spielte er diese vier Stiicke mit bewundernswiirdiger 
Fertigkeit. Dieses bestimmte den Vater zur Ausfiihrung sei- 
nes schon langst gefafiten Vorsatzes, mit dem Knaben, als 
mit einem Wundertiere, zu reisen. 

Er nahm all sein bifichen Hab und Gut zusammen, um sich 
und vorziiglich den Knaben mit so viel goldene und silberne 
Tressen einfassen zu lassen, als er nur bezaMen und geborgt 
erlaalten konnte. Die alt en Kl eider wurden dazu teils umge- 
wandt, teils von neuem aufgefarbt; und aus der Mutter alten 
pohlnischen Pelze, von schwerem Stoffe, in welchem die Apo- 
stelgeschi elite eingewiirkt v^ar, der auch. schon seit der Mitte 
des vorigen Jahrhunderts ein Erbstiick in der Familie der gu- 
ten Frauen gewesen, vv^urden zwei Westen fiir unsern Knaben 
geschnitten. 

Auch wurden ikm die Haare, die ihn bisher locldgt um die 
Schultern hingen, nach damaliger franzosischer Manier in 
Thorn oben abgeschoren und an den Seiten zu Taubenfliigeln 
frisiert, die gegen den anderthalb Viertel langen und ebenso 
breiten Haarbeutel hinten zusammenschlugen. 

Schwarze Halsbinden wurden fiir den Knaben aus derFlor- 
kappe der Mutter zusammengestickt und von den Judenkan- 
ten, w-omit die Brautkiissen der guten Frau besetzt waren, sie- 
ben Paar Manschetten und dazu von ihrem Brautlaken zwei 
Oberhemden gemacht, unter welche der Vater dem Knaben 
wahrend der Reise die sieben Paar Manschetten nach der 
Reihe unterheften wollte. 

Die zinnernen Schuhschnallen wurden mit Kornbrannte- 
wein und Kreide blank geputzt, damit sie das Ansehen von 
silbernen Schnallen bekamen. Die schv^arzen Zeughosen 
wusch der Vater mit saurem Bier glanzend ; mit Essig putzte 

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unci steifte er den alten Hut des Knaben auf und setzte ilim 
eine schwarze Feder drum, die ihm einst ein LandstraBenbe- 
reuter auf einer Hochzeit statt der gewohnlichen vier guten 
Groscben fur den Vortanz gegeben. 

Nocb kaufte der Vater bei einem Trodler fiir den Knaben 
eine einhausige silberne Tasehenuhr, die zwar keinen Minu- 
tenzeiger, aber docb einen Stundenzeiger hatte, der sicb auch 
bisweilen bei starken Erscbiitterungen fortbewegte. Daran 
wurde gebunden ein breites halbseidenes feuerrotes Band, 
von dem Feiertagsbrustlatz der Mutter abgetrennt, und an 
dieses Band fiinf Uhrschliissel, drei von Messing, zwei von 
Stahl, die der Vater seit vielen Jabren so gelegentlicb gesam- 
melt und unter andern Kleinigkeiten, als Rockknopfe, West- 
knopfe, Armelknopfe, Bleistifte, Kamme, Brotkrunien, Koli- 
phonium, Dampfer und Reste von Wacbslicbtern, bei Juden- 
hochzeiten eingesteckt, in der linken Westtascbe getragen 
hatte. Dazu noch die beiden silbernen Trauringe der Eltern, 
eine komiscbe Devise und ein Kruzifix von Bernstein kamen. 

Auch wurde in den Hosen des Knaben iiber der rechten 
Htisentasche eine Offnung gemacht, una dieses Uhrwerk hin- 
einzustecken ; xiber dieser Offnung wurde ein groBer knocher- 
ner Knopf angenahet und unten ein Hemes Knopf loch ge- 
macht, das nur mit groBer Miihe iiber den Knopf ging. Wenn 
nun das Werk gliicklich darinnen war, so knopfte der Vater 
mit Anstrengung aller Krafte.die Offnung zu und fiigte mit 
groBen Drohungen und hundert Fliichen und Schimpfwor- 
ten den ausdrticklichen Bef ehl hinzu, daB der Knabe nie selbst 
den Knopf aufknopfen und die Uhr herausnehmen, sondern 
dieses dem Vater allein uberlassen sollte. Zehn solche Kna- 
ben hatten den Knopf nicht bewegen konnen. 

Der arme Junge hatte seine Not mit dieser Uhr: Denn 
wohl zehnmal des Tages besah sie der Vater, ob auch alles 
im Stande ware, und jedesmal gehdrte wohl eine viertelstiin- 

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dige Operation dazu, um sie herauszubringen. Auch hatte der 
Junge, bei aller Eitelkeit und allein Eigendiinkel, der ihm 
so von alien Seiten eingefloBt wurde, noch natiirliche Scham 
genug, sich des marktschreierischen Uhrbandes zu schamen. 
LieB ihn der Vater allein ausgehen, so steckte er das ganze 
Uhrgelaute in die unterste Hosentasche, damit es niemand sahe. 

Er hatte dieses gleich den andern Tag getan, da ihn der 
Vater zur Schau zum Nachbar zur linken Hand schickte, unter 
dem Vorwande, zu fragen, wo doch der Herr Nachbar die 
gestrigen schonen sauern Gurken habe holen lassen. Wenn 
ihm dieser das sagte, sollte er fiir einen Groschen Gurken 
auf zwei Tellern nehmen und einen Teller an den Nachbar 
zur Rechten, den andern an den Nachbar geradeuber hin- 
tragen, mit Bitte, nicht ubelzunehmen, daB der Herr Vater 
und die Frau Mutter freundlich griiBen lieBen, und daB 
sie vor etlichen Tagen saure Gurken eingemacht hatten, und 
daB die Gurken gut geraten waren, und daB sie sich die Frei- 
heit nahmen, ihnen ein paar davon zu schicken, und daB 
sie ihnen einen guten Appetit wiinschen lieBen, und daB sie 
ihnen wohl bekommen mochten. 

Der Knabe, der kein Arg dabei hat und gewiB nicht auf 
den Gedanken kommt, daB die Presentation seines Uhrban- 
des der wahre Endzweck aller der Gange sei, steckt dieses aus 
Scham, wie gesagt, beiseite, geht zum Nachbar zur Linken 
und erf ahrt, daB der Mann selbst die Gurken einmacht und 
verkauft. Er halt darauf die beiden Teller hin und bittet ihn, 
auf jedem Teller fiir sechs Pfennige Gurken zu geben. Drauf 
fragt der Herr Nachbar von gegeniiber und der Herr Nach- 
bar zur Rechten, die zum Ungliick beide da sind, um eins auf 
den fetten Kohl zu setzen, warum er die Gurken auf zwei 
Tellern nahme? Der Knabe erzahlt ihnen dann ganz treu- 
herzig mit alle dem daB, daB, daB, daB, daB er sie ihnen bei- 
den hintragen sollte. Das erregt dann ein so schreckliches 

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Lachen^ daB der eine den Gurkentopf zu Boden wirft und 
dem andern das Glas vor Hem Munde springt. 

Alle drei nehmen Stock und Hut, lauf en zum alten Gulden, 
lob en seine Kunst, saure Gurken einzumachen, und danken 
herzlich furs freundschaftliche Andenken. Der Alte, der die 
wahre Ursache, warum er den Knaben geschickt, nicht sagen 
darf, auch nicht Fassung genug hat, es in Scherz zu verkeh- 
ren, muB seine Argernis verbeiBen, bis die Lachenden fort- 
gehen und ihm freies Feld lassen, den Knaben vorzunehmen. 

Im Hinausgehen und Begleiten der Gaste — denn er hatte 
die Gewohnheit, seine Gaste bis auf den Mittelstein derStraBe 
zu begleiten und dann noch zu bitten, das Geleite mitzu- 
nehmen — , da warf er schon, den Gasten eine gesegneteMahl- 
zeit wiinschend, dem Knaben, der sich schmeichelnd an seinen 
Arm hing, einen finstern, drohenden Blick zu und stieB ihn 
von sich. 

Kaum war die Tiire verriegelt, so ergriff er mit der linken 
Hand den armen Knaben bei den Haaren, mit der Rechten 
griff er nach dem groBen eichenen BaBbogen — denn es waren 
ihm auf den Hochzeiten seit einem Monat schon dreizehn 
BaBbogen von leichterem Holze zerschlagen worden — und 
priigelte an dem armen Jungen seine ganze Wut uber die 
fehlgeschlagene grobe List ab. 

Der Knabe, dem fur Schreck gleich Stimme und Sprache 
vergangen, welches der Vater fur Hartnackigkeit und Fuhl- 
losigkeit hielt, konnte endlich wieder schreien und schrie : »Ach 
mein Arm, mein Arm!« Hier hemmte ein aufsteigender Ge- 
danke im Vater, an Kapital und Zinsen, seine Wut, und er lieB 
nach. Kaum fing der Knabe aber wieder an zu schmeicheln 
und zu bitten, der Vater sollte doch nur weiter nicht bose 
sein, so vermiBte dieser die Uhr an des Knaben Seite. »Tau- 

send Teufel! «, und nun wieder mit der linken Hand nach 

den Haaren des Knaben, mit der rechten den BaBbogen ver- 

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kehrt, und das so lange, bis der Junge ohnmachtig vor ihm 
lag. Nun erst die Frage: »Wb hast du Kanallie die Uhr ge- 
lassen?« Der Knabe ist ohnmaclitig, er hort nicht. »Du zvillst 
nicht antivorten, Bestie?« Und nun wieder einen Griff in die 
Haare. Der Knabe erwacht. »Die Uhr, Bestie!« Der Knabe 
zieht noch ganz ohnmaclitig den Uhrband hervor. Der Vater 
reiBt voll miBtrauischerUngeduld und vollBosheit den Knopf 
ab, der das Werk verschlieBt; er sieht die Uhr noch unbe- 
schadigt, hebt den Jungen auf, tragt ihn aufs Bette und 
schreit, daB die Fensterscheiben klirren: »Weib, Weib, Was- 
ser, ungarisch Wasser, MagensektJ« Der arme Junge weint. 
Der Vater: »Lach\ Jungchen, lach', ivein nicht, bist auch 
mein liebes Heinchen. Da, sieh hier, ich ivill dir azich einen 
Gulden schenken, utein' nur nicht, lach% Jungchen, lach'J« 

Der arme Junge verzieht den Mund zum Lachen, er will 
gern das Weinen unterdriicken, er kann aber nicht sogleich 
und schluckset wiederum desto starker, je langer er es ver- 
bissen hat. Der Vater i »Sieh doch so 'ne boBige Krote: Ich will 
dir bei Gulden: Ein Quark sollst du haben: Ists nicht genug, 
daB dein Vater dir gute Worte gibt? du Baseliske!« 

Das Weinen und Schlucksen des Knaben legt sich nun na- 
turlicherweise von selbst; er siehet den Vater liebreich und 
bittend an. Der Vater -. »So, mein Hanschen, nun bist du mein 
liebes Sohnchen, da hast du auch den Gulden. Was willst 
du nun mit dem Gulden anfangen?« Der Knabe -. »Ich will 
der lieben Mutter — — aber schelt' Er nur nicht, lieber Va- 
ter — , ich will der Mutter schwarz Band in ihre Sonntags- 
kappe und blau Band zu ihrer gelben Haube kaufen.« — 

Ich habe diesen Vorfall, der sich am Sonntage ereignete, 
ebendem Tage, an dem der Knabe zehn Jahre alt war und 
an welchem der Vater zum heiligen Abendmahl gewesen, so 
ausfuhrlich erzahlt, um den natiirlichen guten Charakter des 
Knaben und seine abscheuliche Erziehung — zwei so oft und 

19 



fast allgemein vereinigte Dinge unter den Menschen — in 
ein besseres Licht zu setzen. 

Noch kaufte der Vater zur Ausstaf fierung des Knabens einen 
kleinen Degen von Prinzmetal!, dessen Scheide er nicht vor- 
sichtigerweise vernagelte oder verklebte — wie es wohl die 
Eltern vieler adlicher Kinder wohlbedachtig zu tun pflegen, 
die ihrem Knaben den Degen geben miissen, um ihn so friih 
als moglich den dummen Adelstolz und die tyrannische 
Herrschsucht des verdorbenen Menschen einzufloBen, damit 
er nicht zur Beschamung seines Vaters den wahren Adel des 
Menschen und die natiirliche Gleichheit der Menschen unter - 
einander kennenlerne — , er vernagelte oder verklebte die 
Scheide also nicht: nahm aber wohl die ganze Klinge heraus 
und fullte die hohle Scheide mit f einem Sand. Daran 
schleppte nun der arme Junge seine Ehre und seine Not. 

Nun stand der Knabe vollig ausstaffiert da. Man denke sich 
itzt den ganzen marktschreierschen Anzug zusammen und 
unter diesem Anzuge einen allerliebsten Jungen mit groBen 
blauen Augen, hellbraunem Haare, einer nicht zu hohen, 
sanft gewolbten Stirne, einer sanft gebogenen Nase, einem 
sanft geriindeten Munde, der immer freundlich lachelte, und 
einem langlichrunden Kinn. Diesem lieblichen Gesichte fehlte 
nichts als die f eine Mischung von WeiB und Rot bei gesunden 
Kindern, denn sein Blut v^ar durch die unordentliche Lebens- 
art zu dick, stets zu sehr in Wallung und farbte das Gesicht 
des Knaben unnatiirlich rot. Auch fehlte ihm aus ebendem 
Grunde die Zierde der weiBen Zahne. Er -war iiberaus wohl- 
gewachsen, nur nicht groBer und starker, als gesunde Kinder 
gemeiniglich von sieben bis acht Jahren zu sein pflegen. 

Der Vater kaufte sich vom Trodler einen scharlachroten 
Rock mit breiten goldnen, oft gewaschenen und mit Marien- 
glas geputzten Tressen, den der Trodler schon lange vom 
Scharfrichter des Orts in Kommission hatte und in welchem 

20 



^.. 



dieser Ehrenmann seit zwanzig Jahren sein Ehrenamt ver- 
richtet hatte. Dazu kaufte er sich noch eine hellblaue seidene 
Weste, worauf allerlei siidamerikanische Vogel von der hell- 
sten, brennendsten Farbe gemalt waren und die mit breiten 
Frangen und langen Trodlen von schwarzer Seide und Sil- 
berdralit besetzt war. Er vervollkommete dieses Meisterstiick 
dadurch, daB er in den Zwischenraumen von dem Schnabel 
des einen Vogels zum Schnabel des andern einige Linien No- 
ten mit Silberfaden und schwarzer Seide hineinsticken lieB. 

Hosen durfte er sich nicht neu anschaffen, denn er hatte 
sich nicht langst ein Paar f ein kalblederne Hosen angeschafft, 
die durfte er nur schwarz farben lassen. Waren auch gleich 
durch den letzten Vorfall im Wirtshause, da die besoffnen 
Gaste auf den lustigen Einf all kamen, die ganze Musikanten- 
bande zu zwingen, eine halbe Stunde auf Erbsen knieend zu 
spielen, die neuen Hosen an den Knien. durchgescheuert, so 
wurde das durch die hochaufgezogenen Stief ein bedeckt. Noch 
kaufte er sich einen alten gewaschenen und umgewandten 
Hut mit breiter goldenen Tress e und einen Haudegen mit 
einer breiten Barenklinge. 

Nun f ehlte es nur noch an Reisegeld und an Bestimmung 
der Art und Weise zu reisen. Es wurden verschiedene Pro- 
jekte gemacht und einige auch ausgefiihrt. Das erste war, 
daB der Vater die einhausige Stundenuhr des Knaben, die 
fiinf Taler gekostet hatte, unter funfzig Subskribenten zu 
einem Taler Einsatz ausspielte. Das sollte manchem schwer 
werden; allein er wuBte das Ding von der Seite anzugrei- 
fen, von der in der gegenwartigen Welt alles am sichersten 
ausgefiihrt ist. Er faBte die Herren von seiten der Torheit, 
der Eitelkeit und des unzeitigenMitleidens. Er und der Knabe 
zogen beide ihre neuen Staatskleider an und iiberfielen alt 
und jung bei dem Fruhstiicke. 

Der Eintritt dieser Masken ins Zimmer erregte bei jedem 

21 



ein ausgelassenes Gelachter : Und das heiBt bei gemeineii Men- 
schenseeien schon eine Schleuse zur Freigebigkeit geoffnet. 
Die andere offnete sich der Vater durch seine Anrede : »Euer 
Gnaden sind viel zu groftmutig und schenerose, als daf3 sie 
nicht ein TVerh der Barmherzigkeit an diesem armen Knaben 
ausuben sollten« usw. 

War noch eine Schleuse vor denHerzen des gnadigen Herrn 
verschlossen, der oft auch ein Gewiirzkramer war, so hieB es : 
»Der arme Junge hat kein ganzes Hemde, kein ganzes Un- 
terkamsolchen; zieh den Rock ab, Heinchen, zeig's demgna- 
digen Herrn; ich A?vill ihm auch gern ein en warmen tTber- 
rock als ein ungrisch Pelzchen zum Winter machen lassen, 
allein ich armer Schelm « 

Nun ergriff der^veise, giitige, groBmiitigeMenschenfreund, 
der's nicht ubers Herze bringen konnte, den Herrn Papa auf 
die Tressen seines und des Knaben Rock zu verweisen, die 
Feder; ehe er aber noch seinen Namen ganz zu Ende ge- 
schrieben hatte, kiiBte ihm der alte Gulden den Armel und 
sprach mit flehender Stimme : » Wenn Euer Gnaden die Uhr 
gewinnen, sind Sie auch ^vvohl so gnadig, sie dem armen Jun- 
gen zu lassen; es ist ein Patengeschenk von seinem GroB- 
vater, die hochste Not hat mich gezwungen . . .« — »Ja, ja, 
meinetwegen, alter Geck«, sagte der groBmutige Mann und 
warf ihm den Taler hin, daB er dreimal hellklingend um 
seine FiiBe rollte. So ging das in der ganzen Stadt herum, 
und statt der im Plan bestimmten funfzig Personen waren 
bald fiinfundneunzig beisammen. Was blieb aber davon zum 
Reisegelde iibrig ? 

Beijedem errungenen Taler kehrte der Vater mit dem Kna- 
ben in ein Weinhaus, Kaffeehaus oder beim Kuchenbacker 
ein, um den SchweiB seines Angesichts zu trocknen; und da 
ging denn immer ein Dritteil des Talers drauf . Bei der wirk- 
lichen Ausspielung der Uhr -war ein Konzert versprochen und 

22 



wurde audi gegeben. Dazu waren alle musikalische Bier- 
briider des alten Gulden eingeladen. Es kamen ihrer zwei- 
unddreiBig zusammen; die fraBen und soffen bis in die spate 
sinkende Nacht, und denMorgen darauf betrug die Reclaming 
fiir sieben Karpfen, sechs gebratene Ganse, drei Spannferkel, 
eilf Pfund Butter, zehn groBe Brote, anderthalb Tonneii 
Bier und sieben MaB Branntwein, zweiundsiebenzig zerschla- 
gene Pfeifen und fiinfunddreiBig zerschlagene Glaser und 
Bouteillen zweiunddreiBig Taler. 

Da sie des Morgens friih um drei Uhr von dem Schmause- 
platz nach Hause kehrten, bescblossen sie, dem dasigen be- 
riihmtesten Pf efferkuchenb acker ein niedliches Standchen zu 
bringen. Dieser hatte sich vor einigen Wochen einf alien las- 
sen, die tragikomische Szene, wie die ganze Musikantenbande 
einst auf Erbsen kniend mit graBlicben Gebarden lustige 
Tanze spielen muBte, auf einem drei Ellen langen und zwei 
Ellen breiten Pfefferkuchen gar possierlich abzubilden. Da- 
f iir hatten sie denn geschworen, ihm einen Streich zu spielen, 
nie aber fuhlten sie so viel Mut zur Ausfuhrung als eben 
jetzt, da sie mit schweren Kopfen und leichten FiiBen aus 
dem dicken Tabaksdampfe, der langst scbon die Decke der 
Stube scb^varz gefaxbt, in die freie friscbe Luft unter klaren 
bestirnten Him m el hintraten. 

Es wnrde also beschlossen, daB jeder dieser zweiunddreiBig 
ein Instrument nelimen sollte, Tvelcb.es er am wenigsten spie- 
len konnte, und so wollten sie alle unter den Fenstern des 
Pfefferkuchenbackers, jeder aus einem andern Tone oder in 
einer andern Stimmung, das Lied spielen: >0 Eitelkeift, o 
Herzeleid, ist das nicht zu beklagen?< 

Nun waren sie unter den Fenstern des Pf eff erkucbenbak- 
kers, und ohne weiter sich um die Stimmung der Instrumente 
zu bekummern, huben sie die graBlicbste Musik an. Kaum 
hatten sie die erste Strophe des Lieds gespielt, so beschien 

25 



der Mond, der bis jetzt die gauze Nacht einsame Fenster be- 
schienen, schon hundert Nachtmutzen und Nachtkorsetts. Bald 
waren alle Fenster gepfropft voll Menschen, und bald horte 
man vor lautes Lachen und Geschrei das graBliche Geheule 
der Spielenden nicht mehr. 

Der Pf eff erkuchenbacker, welcher bald gewahr wurde, daB 
der SpaB ihm galte und daB er der Gegenstand des Gelach- 
ters sei, beschloB einen plotzlichen Uberfall, nahm sein Weib, 
fiinf Kinder, zwei Gesellen, neun Lehrbursche und die Magd 
zusammen, besetzte mit den Weibern und Kindern die obern 
Fenster und gab ihnen alles wasserhaltendeGeschirrim Hause 
vollgefullt zum Geschiitz, er aber mit den ubrigen Manns- 
leuten nahm alles, -was an Holz und Eisen im Hause beweg- 
lich war, und lagerte sich in^wendig vor die Haustiire. Die 
Ttirglocke gab das Zerchen zum Ausfall; sie erklang, und nun 
entstiirzten plotzlich aus schnellgeoffneten Fenstern alle im 
Hause enthaltene Feuchtigkeiten, und in demselben Augen- 
blick stiirzten die Be^waffneten aus der Tiir und schlugen den 
schrecklichsten Takt zu der herzbrechenden Musik. 

Der Altgesell, "welcher die Schlacht kommandierte, fiel 
gleich iiber den alten Gulden her, der mit einer groBen Stock- 
laterne auf der Schulter an derSpitze stand, und nach einigem 
Widerstande entriB ihm sein Gegner die Laterne. Da ergriff 
der alte Gulden die Flucht, sein Gegner verf olgte ihn, ereilte 
ihn aber anf anglich nicht, bis Gulden an einen breiten Renn- 
stein kam, neben dem der Mond durch eine enge Gasse einen 
schmalen Schein warf . Gulden sieht den Schein f iir den Renn- 
stein an und springt uber den Mond bis an die Brust hinein. 
Nun steht er da fest, sein Gegner ereilt ihn und schlagt ihm 
von hinten die groBe Laterne iiber den Kopf , daB sie ihm wie 
ein niedersachsischer Priesterkragen stolz um den Hals steht 
und der Stock wie ein franzosischer Steifzopf hinten weg- 
strotzt, der manchen Franzosen schon schiitzte, daB das 

24 



Schwert des Feindes nicht in den Nacken drang, und in sei- 
nem Lauf ihn aufhielt. 

Sieben andre musikalischeMitglieder des grausamen Stand - 
chens hatten ihre Flucht durch einen andern Weg nach dieser 
engen Gasse genommen, -wo eben der Mond zwischen hohen 
Giebelhausern auf die Mitte der StraBe fiel. Sie glaubten, die 
Strafie sei vom Wasser iiberschwemmt, welches der breite 
Rennstein zuweilen wohl verursachte, und kamen auf alien 
vieren unter den hervorstehenden hohlen Treppen der Hau- 
ser mit unglaublicher Miihe, unzahligen KopfstoBen und un- 
beschreiblicher Angst durchgekrochen. 

Gulden, dem die hohle Klappe der Laterne gerade vor dem 
Maule lag, rief mit fiirehterlichem hohlen Tone — furchter- 
licher noch, als der auf Reisen befindliche holzerne hochbei- 
nige Arcbimedes durch sein zw^ei Ellen langes Spraclirohr sich 
mit seiner gegeniibersitzenden kopfwackelnden Schonen un- 
terredet — : »Hiilfe! Hiilfe!« 

Die Kriechenden nahmen das fur einen neuen Beweis, daB 
alles unter Wasser steht, und ziehen sich. den beschwerlichen 
und abscheulichen Weg unter den Treppen wieder zuriick, 
wodurch sich Gulden wieder verlassen sieht und nun voll Ver- 
zweiflung den Rennstein lang neben sie her wadet. Bei der 
letzten Treppe wird der junge Heinrich Gulden, der unter 
den sieben Kriechenden war, durch eine Offnung gewahr, daB 
der im Wasser Wadende sein Vater ist, schnell springt er her- 
vor, will sich ins Wasser stiirzen, seinen Vater zu retten, tritt 
aber, zum Erstaunen aller iibrigen, auf trockenes vom Monde 
beschienenes Steinpflaster, neben welchem auf der einen Seite 
der alte Gulden im Rennstein wadet und auf der andern die 
iibrigen unter der Treppe hinkriechen. 

Nach hundert lustigen Fliichen iiber ihre Blindheit und 
langen Gelachter iiber den weinenden Gulden mit neumodi- 
schem Kragen und Zopf ziehen sie sich allmahlich nach dem 

25 



Ort des Ausmarsches zuriick, wo sie denn auch schon die ubri- 
gen Vefwundeten beisammenfanden. Neune waren schwer 
blessiert, die iibrigen aber mit leichten Wunden und Beulen 
davongekommen ; diejenigen, die den engen PaB unter den 
Treppen defiliert hatten, waren am ubelsten an den Kopfen 
zugerichtet, da war Beule an Beule. 

Auch. waren auJBer der zerschlagenen Laterne zwei Wald- 
horner, vier Fagotten, zwei Zinken, drei Hoboen, ein Hacke- 
brett und eine Trompete sehr beschadigt, welche Reparatur 
der alte Gulden von dem Uhrgelde mit acht Talern bezahlen 
muBte. Dazu kam noch, daB siebzehn jener gnadigen Herren 
nicht bezahlt hatten und nachher den alten Gulden mit dem 
Nachttopf aus dem Fenster drohten, wenn er zum andern 
Male starker an die Ture klopfte. Es blieb also nach dieser 
genauen Rechnung von der ganzen Masse sechs Taler acht 
Groschen zur Reise ubrig. 

Dafiir -waren auf Rechnung eines andern vollig fehlge- 
schlagnen Projekts schon dreiBig Taler Schulden gemacht. 
Denn es ist die Art aller schwachen, unverniinftigen Projekt- 
macher, daB, wenn sie so etwas im Kopfe ausgeheckt haben, 
sie sehr bald mit dem Dinge so bekannt werden, daB sie gar 
keine Moglichkeit mehr einsehn, wie das f ehlschlagen konnte. 
Und nun borgen und leben sie schon frisch drauflos, als wenn 
das schlechterdings alles so kommen muB, wie sie sich's dach- 
ten. Und daruber ^vird denn noch. selbst die Anwendung der 
Mittel vernachlassigt, die es allein noch. moglich machen 
konnten. 

Es w^urde noch. dieses und jenes versucht, allein vergeblich. 
Kein ander Mittel blieb iibrig, als nun die Reise bekanntzu- 
machen, von alien Gonnern und Patronen Abschied zu neh- 
men und bei dem letzten KratzfuB die Hand so zu halten, 
daB, wenn etwas hineinfiele, es nicht verlorenginge. Das ge- 
schah, und da der Vater beim Kommendanten der Stadt an- 

26 



fing und bis auf den Gewiirzkramer herunter kein Glied der 
Kette menschlicher Wesen unbetastet lieB, auch bei jedem 
seine Rolle mit dem Knaben so spielte wie dort bei Anwer- 
bung der Subskribenten zur Uhr, so kamen in siebzelm ab- 
schiednehmenden Tagen einhundertzweiundsiebzig Taler eilf 
Groschen fiinf Pf ennige zusammen. Ungerechnet die f alschen 
und ungangbaren Miinzen, die sicb darunter befanden und 
sich an siebenunddreiBig Stuck beliefen, von denen der Alte 
inkurzerZeitzwanzig mit unterlaufend an den Mann brachte. 

Zweiundzwanzig Taler, die in den siebzehn abschiedneh- 
menden Tagen wieder auf demWege inErfrischungen drauf- 
gegangen waren, und jene dreiBig Taler Schulden abgerech- 
net, blieben also reines Reisegeld einhundertzwanzig Taler 
eilf Groschen und fiinf Pf ennige; und nun ging's ans An- 
scliaffen des Reisegerats. 

Nach langem Hinundhersinnen und ofteren heftigen Be- 
ratschlagungen und Streitigkeiten und zweimaligen Schila- 
gereien mit andern Biergasten iiber die beste Art zu reisen 
wurde folgende festgesetzt: Der Alte kaufte fiir sieben Taler 
zwolf Groschen ein kleines, buckligtes Pferd mit Sattel und 
Zeug von einem polnisclien Juden, darauf ritt er, den Knaben 
vor sich haltend, in bestandigem PaB. Zu Forts chaff ung der 
Mobilien und Instrumente, wozu der Alte einen grofien hol- 
zernenVerschlag von den Brettern seines Huhnerbodens hatte 
machen lassen, ^wurde ein Handschubkarren angeschafft. Die- 
sen schob Johann Giirgel Rothbart, der bisher bei der Musi- 
kantenbande des Orts seines starken Arms wegen den groBen 
BaB mit dem vorerwahnten eichnen Bogen gestrichen hatte 
und jetzt zum treuen Reisegefahrten und Bruder des alten 
Gulden auf der LandstraBe, in den Stadten aber zum Diener 
desselben erwahlt ^vorden war. 

Noch wurde vor dem Schubkarren mit einem langen Stricke 
der alte ehrliche Kallax vorgespannt, den der alte Gulden 

27 



vor einigen Jahren von dem Scharfrichter des Orts imWiirf el- 
spiel gewonnen, unterdes&en dieser treue Hund den Hof sei- 
nes Herrn treulich bewachte und unter der zwar strengen, 
aber doch fur Hungersnot, Tollheit und Vergiftung sichern 
Regierung seines Herrn zu leben und zu sterben glaubte. Er 
war dem Scharfrichter auch urn desto knechtlich kindlicher 
zugetan, da er ihn, aus dem Hause des Herrn von Kallax auf 
Kallaxburg verstoBen, krank und schwach hingekommen, 
von ihm, seines guten Fells und dicken Kopfs wegen, geheilet 
und ernahrt worden war. Da man dem Knechte des Scharf- 
richters, der ihn abgeholt, nicht den Namen des Hundes da- 
bei gesagt, so hieB ihn dieser, nach seiner alten Gewohnheit, 
nach den Namen seines vorigen Herrn den alten Kallax. 

In dieser Ordnung zog nun der alte Gulden mit seinem 
Sohn, dem alten Rothbart, dem kleinen Schecken und dem 
dickkopfigten alten Kallax am I.August 1747 zur Stadt 
Thorn hinaus und nahm seinen Weg nach Warschau, deren 
Einwohner damals weit und breit beriihmt waren an Neu- 
gierde und Freigebigkeit fiir alle Wundertiere jeder Art. Ich 
will mich auf die Beschreibung aller der lustigen und narri- 
schen Auftritte der Reisenden nicht einlassen, einige aber 
kann ich doch nicht ganz verschweigen. 

Ehe ich meine Erzahlung anfange, muB ich erst sagen, daB 
unsre Reisenden durch die groBe Hitze gezwungen wurden, 
sich der Last der Kleider zu entledigen. Der alte Gulden zog 
seinen Rock, seine Weste und sein Hemde ab und behielt bloB 
ein weiBes flanellenes weites Nachtkamisol an, so er sonst 
unter dem Kleide zu tragen pflegte, seine Periicke legte er 
auch auf den Karren und setzte sich eine runde Kappe von 
weiBem, mit schwarzen Flecken gesprenkelten Schaffell auf. 
Uber das Kamisol hatte er das Degengehenk gespannt. 

Der alte Rothbart, der die Meinung der Ungarn hatte, daB 
ein Pelz im Winter fiir die Kalte und, wenn er umgekehrt 
28 



wxirde, im Sommer fur die Hitze diene, hatte seinen langen 
weiBen Schafpelz umgekehrt auf dem blofien Leibe, und nun 
schwitzte er unter der Last des Pelzes und schwamm im Bade 
seiner Ausdiinstungen, um nicht von dem Schein der Sonne 
zum SchweiB gebracht zu werden. 

Den armen Knaben hatte der Vater, der noch wehenden 
Luft wegen, in seinen Mantel eingewickelt und die samt- 
ne Reisekappe, wenigstens ganz los, unter dem Halse zuge- 
bunden, damit er sich ja nicht erkalte. Die Pelzschuhe, Pelz- 
miitze und Pelzhandschuhe des Knaben lagen auch auf dem 
Karren. 

So zogen sie gleich den Nachmittag des ersten Tages, ohne 
es zu wissen, durch Kallaxburg. Sie muBten dem Adelhofe, 
der Wohnung des Herrn von Kallax^ dichte vorbei. Indem sie 
nun eben unter dem Fenster sind, in welchem oben der alte 
podagrische Herr von Kallax liegt und iiber den komischen 
Zug vor Lacben vergebn will, erkennt der alte vorgespannte 
Kallax seines vorigen Herrn Haus und straubt sich, von der 
Stelle zu gehen. Der alte Gulden, der kein Arges wahnte, 
halt es f iir Faulheit, reit auf ihn zu und ruf t unablassig : »Na, 
du alter Kallax ^ du alter Racker, ivillst du zuohl voriudrts!« 
Der alte Kallax im Fenster hort unten seinen Namen schimp- 
f en und glaubt, die Kerls schimpf en ihn und sein hochadliges 
Podagra, gerat in Zorn, schreit und lautet nach seinen Be- 
dienten. 

Da indessen nicht gleich auf den ersten Schrei einer er- 
scheint und er selbst seines heftigen Podagras wegen nicht 
vom Stuhle kann, ergreift er die vor ihm stehende Schale 
voll Bischof und wirft sie dem alten Gulden, noch zu Pf erde 
sitzend und nach der Seite zum alten Hunde stark iiberge- 
bogen, grade iiber den Kopf . Dieser taumelt fur Schreck vom 
Pferde und glaubt, vom dunkelroten Bischof iiberflossen, in 
seinem Blute zu liegen. 

29 



Der arme Knabe, den er im Reiten sich angeschnallt hatte, 
lag unter ihm und war wxrklich in Gefahr zu ersticken. 

Der alte Rothbart bemiihte sich, seine Sielen, mit denen er 
an den Schubkarren fest war, loszumachen, um dem alten 
Guldeiz zu Htilf e zu eilen, war aber zu eilig darin und fiel die 
Lange lang, mit den FiiBen unter dem Karren. 

Kallax war indessen beschaftigt, seinen Strick, den er nicht 
zerreiBen konnte, abzubeiBen. 

Nun kamen die Bedienten des Herrn von Kallax mit Flin- 
ten ohne Lauf e, Degen, deren Klingen fest in ihren Scheiden 
waren, Ofengabeln und Ochsenziemern zusammen und woll- 
ten iiber die Zigeunerbande, wie sie schrien, herfallen. Sie 
fanden aber das Feld schon geraumt. 

Rothbart indessen, der sich nicht wie Gulden tot glaubte, 
sahe die feindliche Armee anriicken und wandte von neuem 
alle seine Krafte an, auf die Beine zu kommen. Nun waren 
aber die Hindernisse doppelt. Vorne die Sielen wie vorher 
und hinten eine Flintenkolbe und ein DegengefaB, die sich 
beide um seinen Riicken zu streiten schienen. Diese verdop- 
pelten stets ihre Starke und Schnelligkeit, da der alte Roth- 
bart unaufhorlich rief : »Kallax, alter Kallax , du alter Racker, 
alte Bestie«, in der Absicht, den Hund zur Hiilfe zu rufen, 
der immer noch bemuht war, sich loszumachen. 

Der Kuchenjunge mit der Ofengabel und der Hundejunge 
mit dem Ochsenziemer fielen indes den alten Gulden an, der 
wie tot neben seinen Schecken lag und den Mund und die 
Augen fest zugekniff en hatte, damit ihm nicht sein eigen Blut 
oder vielmehr der Bischof ins Maul laufen mochte. Er hielt 
auch fiinf Schlage mit der Ofengabel und sieben mit dem 
Ochsenziemer aus, ehe er den Mund und die festgeschloBnen 
Augen auftat. Endlich aber erhob er ein furchterlich Gebrull 
und walzte sich auf die andre Seite, wodurch denn der arme 
Knabe Luft bekam und sich hervorzog. 

50 



Unterdessen war der Hund losgekommen und lief nun heu- 
lend und schmeichelnd zu den Bedienten, von den Bedienten 
wieder zum alten Gulden, dann wieder zu den Bedienten und 
wieder zum alten Rothbart. 

Der Kiichenjunge und der Hundejunge, die gewahr wur- 
den, daB sich der alte Rothbart bemiihte, wiewohl vergeblicli, 
den alten Kallax auf die Bedienten zu hetzen, fielen nun uber 
den Hund her, den sie nicht erkannten. 

Dadurch gewann der alte Gulden Zeit, sich aufzuraffen 
und sich nach seinem Kapital und Zinsen umzusehen. 

Der Knabe hatte weinend das Knie des Kuchenjungen um- 
faBt und bat flehentlich fur den armen alten Kallax. Dieser 
Anblick rxihrte den alten Herm von Kallax am Fenster, der 
von oben herab die Schlacht kommandierte, gleich dem feu- 
rigen Admiral einerFlotte, der auf dieSpitze des Hauptmastes 
gestiegen, um von da die Lage der Sachen genauer zu erken- 
nen, und von oben herab seine Befehle hinabdonnert. 

Durch den Anblick des Knaben geruhrt, gab er Bef ehl zu 
einen Waffenstillstand, hieB die Gefangnen und ruhmlichst 
Uberwundnen vor sich fiihren und schrie von oben herab: 
»All die mordialische Blitz- Hagel-Wirtschaft mit her auf ; alt 
und jung, Esel und Hund, auch der Sapperments-Kuckkasten 
und die ganze tausend elementarische Wirtschaft!« 

Nun denke man sich den alten Gulden, wie sein weiBes fla- 
nellnes Kamisol und die weiB und schwarz gesprenkeltePelz- 
kappe, von dem purpurroten Bischof uberstromt, mit sehr man- 
nigfaltigenSinnbildernundKarikaturfiguren geziert^war; wie 
er, dessen klagliches Gesicht auch von Bischof uberstromt, 
blutige Tranen zu weinen schien, nun gezwungen wurde, sich 
auf den Schecken zu setzen und so die steile Treppe hinaufzu- 
reiten. Nichts anders hatte ihn auf dem Pferde erhalten kon- 
nen als der Ochsenziemer zur Rechten und die Of engabel zur 
Linken, denn mit jedem Fehltritt des Pferdes glaubte er sein 

31 



Grab zu erblicken. Um das MaB seiner Angst vollzumachen, 
amiisierte noch der achtjahrige Junker des Hauses den Schek- 
ken von hinten mit einer SpieBrute. 

Unser guter Knabe wurde auf den alten Hund gesetzt und 
so die Treppe heraufgezogen. Mit Gehen konnte der Hund 
nicht so recht vorwartskommen, da sich der sechsj ahrige Junker 
und das fiinfj ahrige Fraulein des Hauses an den Schwanz des 
Hundes angehangen hatten und sich so mit fortziehen lieBen. 

Den alten Rothbart, dem die Flintenkolbe mit Ol und Pul- 
ver Sonne, Mond und Sterne auf seinen weiBen Schafpelz ge- 
malt, den hatten sie den schweren Bretterkasten auf dem 
Kopf gesetzt, und so muBte er sich die Treppe hinanarbeiten. 
Was ihn sehr oft straucheln machte, war, daB sich der vier- 
j ahrige und dreij ahrige Junker und das zweij ahrige Fraulein 
des Hauses unter seinen langen Schafspelz versteckt hatten, 
ihm da das Brot und die Kase aus der Tasche mausten und 
unter dem Pelze zu verzehren begannen, bis sie von der Flin- 
tenkolbe und dem DegengefaBe, die noch immer die Ober- 
direktion iiber den Rothbart fiihrten, gelegentlich zwischen 
Rothbarts Beinen hervorgetrieben wurden. 

Den Zug beschloB der Hofmeister der jungen Herrschaft, 
der eben aus dem Stalle kam, wo er des altesten, vierzehnjah- 
rigen Junkers Grauschimmel hatte striegeln und kartatschen 
miissen, weil der Junker selbst durch eine ritterliche Ubung, 
die ihm sein gnadiger Papa auf dem groBen Saal vornehmen 
lieB, davon abgehalten warden. Neben ihm, wiewohl einen 
halben Schritt zuriick, ging das erhitzte alteste, sechzehnj ah- 
rige Fraulein des Hauses, die seit der Zeit, daB der Herr 
Hofmeister mit dem altesten Junker abwechselnd die Reit- 
pferde striegelten, ganz besondern Wohlgeruch am Pferde- 
mist fand und deshalb oft den dunkeln Stall besuchte. Der 
gnadige Papa freute sich des hochadlich ritterlichen Gebluts 
in ihren Adern herzinniglich. 

52 



Nun sind sie oben. Die Saaltiire geht auf . Am auBersten 
Ende sitzt der alte podagrische Herr von Kallax, erhebt sich 
mit dem halben GesaBe und ruft, so weit vorgebogen, als er 
kann, dem Zuge entgegen: »Aber ihr tausend mordialische 
Hollenhunde — hahahaha! — potz Element, der Kerl sieht 
aus . . .«, und nun konnte er fiir baucherschiitterndes Lachen 
nicbt weiter. Der alteste Junker, der von drei verordneten 
Straf stunden erst zwei auf dem bolzernen Esel in der Ecke des 
Saals geritten, vergafi die Strenge seines gnadigen Papas und 
entsprang dem geduldigen Esel. Die gnadige Frau Mama, die 
eben in derKiicbe bescbaftigt war,ibr scbwarzbraunes Gesicbt 
mit saurer Molken zu wascben, um es fiir Sommerflecken zu 
be^wahren, vergaB, sicb abzutrocknen, stiirzte mit dem ^sreiBen 
Milchgesichte in den Saal und sprengte ihren Schniirband mit 
ausgelassenem Lacben. 

Der alte Gulden^ der sicb gerne verantworten ^wollte, 
konnte sich auf keine Weise dem alten Herrn von Kallax 
nahern; vom Pferde lieBen ihn seine bewaffneten Wachter 
nicht, und den Scbecken konnt' er auf keine Weise weiter vor- 
wartsbringen. Dieses sein angstliches Schweben und Streben 
verdoppelte das allgemeine Gelachter. Nicbt des alten Gulden 
Fleben, nicht des Rothbarts Fluchen, nicht des Knaben Wei- 
nen, nicht des Hundes Heulen drang bis zu den Ohren des 
Herrn von Kallax, alles wurde von dem schrecklichen, glas- 
schmetternden Gelachter erstickt. 

Kaum hatte aber der alte Herr von Kallax wieder et^was 
Luft geschopft, so schrie er, vorher dreimal mit der Parforce- 
peitsche auf den groBen Tisch schlagend, durch all den Lar- 
men durch : »Lustig 7 ihr Sapperments-Hunde, lustigden Kuck- 
kasten ausgepackt, all eure Schnurrpfeifereien heraus, alle 
eure tausendelementarische Hokuspokus aufgezuichst!« 

Gulden und Rothbarts Protestation, daB sie keine Taschen- 
spieler oder Marionettenspieler waren, daB in dem Kasten 

33 



solche kxinstliche Sachen nicht enthalten waren, wurden nicht 
angehort, der Alte schrie nur immer: »Ruhrt euch, ihr Hun- 
de, oder ich riihre mich!« Auf dieses alien Sinnen im Hause 
f iirchterliche Machtwort fielen die Bedienten uber den Kasten 
her und schlugen ihn voneinander. Da lag nun die ganze 
bunte Wirtschaft vom Federhut bis zum Stief elknecht, dabei 
zwei Geigen und eine Menge Noten. 

»Musikanten sind's, Euer hochiuohlgebornen Gnaden«, 
rief eiii Bedi enter. »Musikanten? Potz Element, die Kerls 
kommen ja zuie gerufen, als ivenn sie der Erzengel Gabriel 
aus einer Pistole vom Himmel herabgeschossen hatte. Hans, 
lauf du gleich zu dem Musikantengeschmeif3 in der Schenke, 
sie durften auf morgen keine Musikanten kommen lassen, zuir 
hdtten schon zuelche aufgegriffen. Lustig, eins aufgewichst, 
du alte vers off ene Pelzkappe/« 

Gulden sprach von reisenden Virtuosen, von Konigen und 
Kaiser — aber in den Wind. »Aufgetuichst, lustig aufge- 
u)ichst!« schrie der alte Herr von Kallax ohne UnterlaB. End- 
lich erliielten sie denn doch die Erlaubnis, sich erst zu reini- 
gen und in klangbaren Stand zu setzen. Nun zog der ganze 
ZugnachderKiichenstube,da klarte sich dann das ganze MiB- 
verstandnis mit dem Hunde bald auf, und die unverdienten 
Priigel wurden ihnen mit Bier und Branntwein und man- 
cherlei Speisen reichlich. ersetzt. Audi wurden sie mit dem 
Herrn von Kallax einig, zu seinem morgenden Geburtstage 
dazubleiben und einer Gesellschaft Dorfkomodianten, die zur 
morgenden Feier verschrieben ^raren, mit ihren Instrumen- 
ten bebulflich zu sein. 

Der alte Gulden hielt es fur schicklich, dem Direktor der 
Komodianten seine Aufwartung zu machen, und da der Kna- 
be, der noch nie eine Komodie gesehn, gehort hatte, es wiirde 
den Abend in der Schenke eine Vorstellung gegeben, bat er 
den Vater, ihn mitzunehmen. Sie setzten sich alsobald ins 

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Zeug und gingen im volligen Staate nach der Schenke hin. 
Rothbart ersehien hier zum ersten Male in seiner Livree : ein 
alter brauner Rock mit steifen SchoBen und kleinen zinner- 
nen Knopf en bis unten herunter, gezeicbnet mit groBen feuer- 
roten Aufschlagen und einem secbseckigten Kragen, aus des 
alten Gulden altesten pliiscbnen Hosen geschnitten, dazu ein 
weifi kanevasnes Kamisol mit groBen roten Blumen; griine 
Zeughosen mit goldnen Kniegiirteln und blaue wollne 
Strumpfe. An dem groBen Hut ein kleiner goldner Knopf 
und eine siebenf acbe breite scbwarze Scbleif e von einem alten 
HaarbeuteL So wadete er durcb den tiefen Sand naeh der 
Schenke voraus, um seine Herrscbaft anzumelden. Der alte 
Gulden hatte den Knaben, welcher im Sande nicht fortkom- 
men konnte, unter dem recbten Arme. 

Der Direktor stand in dem groBen Tore der Schenke und 
fiillte es. Er war zum Direktor einer solchen Gesellschaft ge- 
boren. Ein grofier, starker Mann, gut gespalten, wadenreich, 
schenkelfest, mit einem ansehnlichen Bauche versehen; wenn 
er bei hoher Leidenschaft daraufpaukte, so fuhren alle Weiber 
zusammen und nahmen's fiir Pistolenschiisse. Auch hatte er 
einen breiten .Rucken, auf dem Hanswursts Pritsche oft wie 
eine Riibe zersprang, breite Schultern, starke Arme und Han- 
dle. Wenn er sie beide zugleich erhob, so pfiff die Luft um ihn; 
und wenn er seinen heroischen Schneller mit dem recbten 
Absatze machte, erbebte die Erde unter ihm. Dabei ein star- 
kes, voiles, schwarzbraunes Gesicht, worin auch der Kurz- 
sichtigste auf hundert Schritte Maul, Nas 9 und Ohren wohl 
voneinander unterschied; eine Stimme! — tote Ochsen zu er- 
wecken; ein paar Augen! — in bestandigem Kreislaufe irrten 
sie; man hatte glauben sollen, er sahe mit einem Blick das 
ganze Firmament iiber sich, alles feste Land vor sich, alles 
Wasser hinter sich und den Mittelpunkt der Erde unter sich. 
Er aB aber oft Fisch fiir Fleisch und Kartoffeln fiir Pasteten. 

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Schon wuBt' er die ganze Mordgeschichte von des Herrn 
von Kallax' Hause; mit gravitatischer Gebarde aber nahm er 
die Anineldung eines reisenden Virtuosen an und schritt zwei 
und einen halben Schritt dem alten Gulden entgegen. Dieser 
lieB vor Schreck seinen Sohn unter dem Arme weg fallen, da 
der Direktor seinen heroischen Schneller applizierte und seine 
fiirchterliche Stimme erhob wie folget: 

Direktor: Hrrrnhum! Es kann dem hochseligen Schatten 
des groBen, allweit und allweltberiihmten Eurrripidus nicht 
gewaltiger Herz und Nieren fur Freude erschiittern, wann er 
in den allweit und allweltberiihmten — 

Gulden (mit einem tiefen Buckling und KratzfuB, daB der 
Absatz den Hintern beriihrte): Ei, ganz gehorsamster Die- 
ner! 

Direktor (mit unverwandten starren Blick und furchterlich 
einformig hohlen Ton ungestort f ortf ahrend) : Hrrrnhum! 
Wenn er in den allweit und allweltberiihmten elysischen 
Waldern seinen groBen und allweit und allweltberiihmten 
Nachfolger Horrratius begegnet, als es mich anjetzt in Herz 
und Nieren erfreut — 

Gulden (wie oben): Ei, ganz gehorsamster Diener! 

Direktor (wie oben): Hrrrnhum! Als es mich anjetzt in 
Herz und Nieren erfreut, einen solchen groBen, allweit und 
allweltberiihmten Mann • 

Gulden (wie oben): Ei, ganz gehorsamster Diener! 

Direktor (wie oben) : Einen solchen groBen, allweit und all- 
weltberuhmten Mann von Angesicht zu Angesicht zu sehen. 
Wie ist Ihr Name? darf ich mich anders zu fragen erkiihnen. 

Gulden (wie oben) : Ei, ganz gehorsamster Diener! IchheiBe 
Michel Kasper Gulden, und dies ist - ei, komm doch hervor, 
Heinchen, warum klemmst du dich so furchtsam an mich? — 
dies ist mein Sohn, der es an Geschicklichkeit und Starke in 
der Violine gewiB alien andern Virtuosen zuvortut. Wenn 

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Sie hier eine Violine haben, soil er Hinen gleich was vor- 
machen. 

Direktor: Ich ersuche indessen Dieselben, sich die Muhe 
zu nehmen, allhier in mein gegenwartiges Losement gef alligst 
abzutreten und mir giitigst zu erkennen zu geben, womit ich die 
Ehre haben mochte, Denenselben aufwarten zu konnen. Es 
ist kein Musentempel - denn ach! o groBer Jupiter! (hier pfiff 
die Luft um ihn) die Kunst geht jetzt nach Brot! Und auch 
der groBte Mann (hier geschah ein pistolenahnlicher Bauch- 
schlag, daB der alte Gulden zurtickfuhr und der Knabe einen 
Schrei von sich gab), der groBte Mann muB sich fur zwei 
Groschen ohrf eigen lassen. Auch kann ich nicht mit Neckarrr 
und Ambrrrosius aufwarten, aber Bierrr und Brrranntwein 
(hier geschah ein heroischer Schneller, daB die Splittern von 
der Hausschwelle davonflogen), Bierrr und Brrranntwein sind 
hier so gut, wie es die gegenwartige allgroBe Hitze nur er- 
laubet, und steht Denenselben gar balde zu Diensten. 

Gulden (wie oben): Ei,ganz gehorsamsterDiener! EinGlas 
Bier, wenn ich gehorsamst bitten darf , um den Herrn nicht 
zu verschmahen. 

Nun traten sie in die Schenkstube, wo die gauze ehrbareGe- 
sellschaft beisannnen war. Hanswurst schniirte eben der im 
Hemde stehendenKolombinedasSchnurleib zu und amiisierte 
sie dabei mit nicht gar verbliimten und nicht handlungslosen 
Schweinigeleien iiber die schwarze Periicke, die ihr zur ellen- 
hohen Coiffure diente; iiber ihre beiden vollen schwarzbraun 
angestrichenen Backen und iiber die blaugebissenen Lippen. 

Der Direktor unterhielt indessen den alten Gulden mit den 
besondern hohen Verdiensten seiner Schauspieler, verglich sie 
mit hundert griechischen und romischen Schauspielern, deren 
Namen wohl noch in keines Menschen Ohr erschallt, und be- 
schloB denn damit, daB das letzte Ziel seiner Wiinsche und 
seines Bestrebens diese hohe unsterbliche Ehre sei, mit seiner 

37 



Gesellschaft nach Paris zu gehen, die im Schutt und Moder 
vergrabene Ehre der Deutschen zu retten und dann vor den 
Toren zu Paris — wie jener Besenbinder vor Hamburg — aus- 
zurufen: He, Paris! hast du Geld und Ver stand, hier isi 
Ware! 

Der alte Gulden, der von all dem nicht zehn Worte verstan- 
den und so ganz gelassen dabei drei Kriige Bier ausgeleert, 
empfohl sich dann und wurde von dem Herrn Direktor fur 
sein williges Ohr mit solchem Eifer umarmet, daB ihm die 
Luft ausging und ein schwarzer Schleier zwischen seinen 
Augen und der Sonne schwebte. 

Kaum waren sie aus der Scbenke, so ergriff der Knabe, der 
wahrend der ganzen Szene keinen Laut von sich gegeben, sich 
£ est an die Tiire geklemmt und mit starren Augen den Direk- 
tor, den Hanswurst und die Kolombine angestaunt hatte, des 
Vaters Hand und sagte: »Ei, Vater, das war auch man eine 
dumme Kornodie.« Der Vater begriff jetzt, warum der sonst 
so dreiste Junge so angstlich getan, und versicherte ihm, es 
sei nur ein Besuch, aber keine Komodie gewesen. 

Da sie nach dem Adelhofe zuriiekkamen, war's ebenEssens- 
zeit, und der alte Herr von Kallax hatte schon yerordnet, 
daB Gulden, sein Sohn und Rothbart in der Kuchenstube soil- 
ten gespeist und getrankt werden. Gulden aber erMarte gleich, 
daB er fxir seine Person mit seinem treuen Diener Rothbart 
sehr gern unten und lieber als an der hochadlichen Tafel 
essen wolle, seinen Sohn konne er aber so nicht erniedrigen 
lassen, der wiirde dadurch seine ganze Virtuosenreputation 
verlieren, der miiBte oben an des gnadigen Herrn Tische essen. 
Der alte Herr von Kallax lachte iiber den tausendelementari- 
schen Pfiff , wie er's nannte, und nahm den Jungen, der ihm so 
schon beim ersten Anblickwohlgef alien hatte, an seinen Tisch. 

Der Knabe zeigte sehr bald seinen guten Ansatz zum Sau- 
fen, und es ward zur Lust beschlossen, ihn dick und voll sau- 

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fen zu lassen. Dabei erzahlte der alte Herr von Kallax, zur 
Bewunderung des Herrn Hofmeisters und zur herrlichen, 
wiewohl verborgnen Freude seiner Junker und Frauleins, wie 
er schon in seinem zehnten Jahre tapfer habe saufen konnen 
und beim Weine seine sechs Pfeifen Tabak rauchen. Auch 
hab 7 er da schon sehr gut gewufit, sich mit Madchen zu be- 
helf en. Urn das Talent des Knaben auch hierin zu erforschen, 
wurde ein nettes, zwolfjahriges Madchen hereingerufen, die 
die gnadige Frauleins bediente, und dem Knaben wurde Frei- 
heit gegeben, mit ihr zu schakern, wie er wollte. Darin war 
er nun aber durch die Vorsorge seiner guten Mutter sehr 
unerf ahren geblieben, und es kostete viel Miihe, ihn durch 
Hiilfe des Herrn Hofmeisters dahin zu bringen, dafi er sie 
kuBte. Es war das erste Mai in seinem Leben, dafi er den 
Mund eines Madchens beruhrte; sein Gesicht gliihte heller als 
der Burgunder in des Herrn von Kallax' Glase, seine Augen 
funkelten, er zitterte am ganzen Leibe, auch wahrt' es dann 
keine Viertelstunde, und er war so betrunken, dafi er sich 
nicht mehr aufrecht halt en konnte. 

So wurd' er zu seinem Vater hinuntergetragen, der den ab- 
scheulichen Anblick aber nicht mit ansehn konnte, denn er 
lag schon samt den alten Rothbart seit einer halben Stunde 
hinterm Ofen und wufite von seinen Sinnen nicht. Die Be- 
dienten — wie jederzeit Affen ihrer Herr en — hatten mit dem 
Alten unten ebendie Komodie gespielt. Doch war bei ihnen 
nur der erste Akt vorbei, der andre sollte angehen, sobald die 
dicke Liese mit dem Aufscheuern in der Kiiche fertig ware, 
unterdessen, hofften sie, sollte der alte Gulden den halben 
Rausch abgeschlafen haben. Den Knaben legten sie indessen 
in der dicken Liese Bette zum Kopfende. 

Ich iibergehe die niedrige, abscheuliche Szene, die die Be- 
dienten in der Nacht mit dem alten Gulden und der dicken 
Liese veranstalteten und ausfuhrten, bis zu dem Augenblick, 

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da der arme Knabe erwachte und sich neben seinem in 
Schande und Laster versunkenen Vater liegen sahe. - Wehe 
dir, armer Knabe, deine Unscbuld ist dahin! ist durcb deinen 
eigenen Vater getotet! 

Ich will von dem festlichen Geburtstage des Herrn vonKal- 
lax weiter nichts beriihren als die Komodie, die den Abend 
gespielt wurde, weil es das erste Scbauspiel war, so unser 
Knabe sah. Es war eine komische Tragodie oder vielmehr ein 
riihrendes heroisches Lustspiel. Die handelnden Personen wa- 
ren: der Kaiser •, der Erbprinz, eine gefangene Prinzessin, die 
sich am Hof e des Kaisers aufhielt, der Hofmarschall des Kai- 
sers und der Hanswurst. Die Szene war im Walde, wo der 
Kaiser mit Kron und Szepter und die iibrigen mit denen ihnen 
zukommenden Attributen spazierengingen. 

Der Kaiser liebte die schone Prinzessin, der Erbprinz aucb, 
und nachdem sie einige Reden ausgestofien iiber die kuhle, 
gar lieblich blasende Luft, iiber den bliimerantblauen und 
eierweifien Himmel, iiber die schweiBtreibende und durster- 
weckende Sonne, iiber den allem Vieh. w^obltuenden Schatten, 
aucb der Kaiser — den der Direktor aus Leibeskraften vor- 
stellte - seinem Sohn einige Mark und Bein durchdringende 
Tyrannenblicke gegeben, dieser aber nichts destoweniger mit 
den glanzendsten Marzkaterblicken in die allerschonste aller 
Prinzessinnen hineingeblickt hatte, so verloren sich die Prin- 
zessin, der Erbprinz und der Hofmarschall im dicken Ge- 
biische, und die beiden Zuriickgebliebenen fanden, daB sie ge- 
meinschaftlich entflohen waren. 

Nun hielten der Kaiser und Hanswurst ihren Rat, wie sie 
sie fingen und straiten. Es ward beschlossen, daB, wer wie- 
derbekommen wiirde, sollte den Kopf verlieren. Hanswurst, 
der in ihrer gegenwartigen Welt das einzige Geschopf aufier 
dem Kaiser war, muJBte das Scharfrichteramt iibernehmen, 
und es wurden ihm zehn Taler f xir jeden Kopf zugestanden. 

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Der erste, der sich finden lieB, war der Hofmarschall, er 
bekannte ohne viele Schwierigkeit, dem Prinzen in der Ent- 
fiihrung der Prinzessin behiilflich gewesen zu sein, und be- 
vri.es mit groBer Impertinenz aus dem Abe und Einmaleins 
und alien Regeln des Rechts und der Politik, daB er so hatte 
verf ahren miissen, zweif elte schlieBlich gar nicht an der iiber- 
groBen Gnade des Kaisers, die ihm doch eigentlich auf die 
Beine geholfen und hinten ausschlagen gelernt hatte. Aber 
der Kaiser ergrimmte gar sehr, setzte die Luft gar machtig in 
Bewegung, bearbeitete seinen Bauch gar grimmiglich, er- 
schiitterte die Erde gar furchterlich und donnerte dem vor 
ihm stehenden schnaufenden und speichelleckenden und ver- 
schluckenden Sunder sein Todesurteil. Auch sollt' es gleich 
auf der Stelle vollzogen werden. 

Da sank dem kleinen Held, der vorher patzig und beiBig 
"wie ein f eiger Stallhund getan, der Mut, er fiel nieder auf die 
Knie und bekannte vor Gott und seinem Herrn seine Siinden, 
wie er von jeher ein f eiger, hochmiitiger, gotteslasterlicher 
und undankbarer Schurke gewesen, um von der Welt fur et- 
was gehalten zu werden. Er wolle nun aber sein Leben bes- 
sern und statt des vielen Fleisches Kartoff ein fressen, statt des 
Voltaire den Cubach lesen. Da aber der Kaiser abermals er- 
grimmte, hub der Kniende mit graBlichem Geheul an, ein 
geistlich Lied zu singen, woruber dann Hanswurst, der mit 
dem Wetzen seines Sabels beschaftigt war, so erschrak, daB 
er wohl zehn Schritt zuriicksprang, denn er hielt es furs Bel- 
len eines aus dem Busch hervorspringenden Hundes. Auf den 
Wink des Kaisers springt er aber wieder vor und will auf den 
Kopf des knienden Hofmarschalls zuschlagen, indem erscheint 
aber der Prinz und ruft: »Bitte mit der Exekution nicht so 
gar schleunig zu verf ahren, denn wenn dieser mein treuer 
Gefahrte stirbt, so sterb ich auch.« 

GroBer Kampf des Kaisers, der sich in heftigen Bauch- 

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sclimerzen und wiirgendem Halsweh gar deutlich auBert : sein 
einziger Sohn! sein Thronf olger ! — aber auch sein Nebenbuh- 
ler, ein bereits Verurteilter. — »Wbhl, er fahre dahin!« Der 
Prinz kniet zur Linken des Hofmarscballs ; der Hof marsehall 
weiB aber ebensogut zu sterben, als er zu leben wuBte, und 
komplimentiert ihn auf den Knien zur rechten Hand. Er be- 
teuerte dabei, solang' er sein Amt verwaltete, es nie gelitten 
zu haben, daB ein Adlicher zur Linken eines Biirgerlichen vor 
Gott gestanden hatte, sicb auch selbst nie der Siinde teilbaftig 
gemaeht, zur Linken eines Biirgerlichen ein Faterunser zu 
beten, und sollte itzt noch am Rande des Grabes den Greuel 
sehen, daB ein Prinz zu seiner Linken stande. »Nein, bei 
Gott nicht!« rief er aus und rutschte auf den Knien zur lin- 
ken Hand bin. 

Hanswurst w;etzt wieder sein Schwert, will nach Standes- 
gebtibr beim Prinzen anfangen, da erscbeint aber die Prin- 
zessin nait jamnierlicben Gesehrei: »Auweh, herrjemine, 
ivann dieser stirbt z so sterb'ich auch!«, und so wirft sie sicb 
neben dem Prinzen. Der Hofmarschall will zuspringen, sein 
Schnupftuch unterzuspreiten, wird aber durch einen scharf- 
richterlichen Kopfscblag des Hansw^ursts in Positur erbalten. 
Hanswurst, der nun die Liebe und Reue des Kaisers fiirchtet 
und doch nicht gerne dreiBig Taler verlieren will, wetzt 
schneller sein Scbwert und will schon auf die Prinzessin los- 
schlagen; allein der Kaiser stofit ihn zuriick, sticbt den Szepter 
in die Erde, nimmt die Krone ab und setzt sie auf den Szepter, 
kniet neben der Prinzessin nieder und sagt, mit Augen des 
sterbenden, abgestochenen Kalbes sie anblickend: »Nein, 
ivann diese stirbt, so sterV ich auch.« 

Hanswurst: »Jucbbei, gar voile vierzig Taler! Nun lustig 
zu Werke! — Aber Narre, wenn der da stirbt (auf den Kaiser 

zeigend), wer bezahlt mich dann? « (Er sticbt semen 

Sabel neben dem Szepter in die Erde, setzt seinen runden Hut 

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drauf, kniet neben dem Kaiser nieder und sagt seufzend:) 
»Nein, luenn dieser stirbt, so sterb' ich auch!« — Die Schau- 
spieler verneigten sich auf den Knien, und der Vorhang f allt 
zu. Ende des Trauerspiels. 

Nach dem Trauerspiele produzierte sich unser Knabe mit 
seiner Geige und zeigte in einem Solo alle seine Tausend- 
kunste und Hexereien. Das letzte Stuck war eine Menuett 
mit unzahligen Variationen, die eine Nachahmung aller itzt 
gebrauchlichen musikalischen Instrumente, nur nicht der 
Singstimme enthielt und der Sprache und Zeichen aller Tiere 
auf dem Felde, nur nicht die Sprache menschlicher Empfin- 
dungen und Leidenschaften. Bald horte man eine kleine Kin- 
derpfeife, bald eine Querpfeife, bald eine Rohrflote, bald 
einen Dudelsack, bald die Kniegeige, bald ein Paar Wald- 
horner, bald Trompeten und hundert andre Dinge mehr, nur 
keine Geige; bald horte man wieder das Geschrei des Esels, 
des krahenden Hahns, das Mauen der Katze, das Wiehern des 
Pf erdes und tausend naturmalende Tone, nur keinen Ton der 
Liebe. 

Aber dem alten Herrn von Kallax und ubrigen Anwesen- 
den durchdrang es Mark und Bein, wohl hundertmal vergaB 
er sein Podagra, wollte aufspringen und >die kleine Schlag- 
blitzkrote fur Liebe zu Quark driicken<. Allgemein wurde der 
Knabe am Ende des Stiicks beklatscht und bekiifit. Selbst die 
alte gnadige Frau, die erst beim letzten Bogenstrich in den 
Saal trat, konnte sich an den runden roten Backen des Kna- 
bens nicht satt kussen. 

Darauf folgte der Gesang von denen gnadigen Fraulein 
des Hauses. Sie hatten im Hintergrunde des Theaters das 
Bildnis ihres Vaters hingehangen, worauf er auBerst martia- 
lisch und eisenfresserisch als Husarenrittmeister gemalt war, 
und da der Vorhang aufgezogen wurde, standen die Kinder 
unter dem Bilde und sangen mit graBlichen Stimmen, das 

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Bild mit wohleingebleuter Zartlicbkeit anblickend, das be- 
kannte Lied : 

O scbonstes Angesieht 

Voll himmlisch boiler Zier, 

LaB deiner Sternen Licbt 

Inbriinstig strahlen mir usw. 

Darauf wurde unser Knabe, den man erst auf der Erde 
stehend zuwenig hatte seben konnen, auf einen Tiscb gestellt, 
und so spielte er, >das tausendelementarische Blitzhagel- 
Ding<, wie es der Alte nannte, noch einmal. Alles wollte fiir 
Freuden aus der Haut f ahren, und der alte Kallax scbwur bei 
alien Teufeln und alien Heiligen, der Junge sollte beute 
abend seine letzte Bouteille Champagner baben. 

Tages darauf setzten unsre Reisende ibren Weg fort und 
zogen auf Anraten des Herrn von Kallax gen Danzig bin, urn 
da den groBen Jahrmarkt mitzunebmen. Zwei Stunden vor 
Danzig war's, wo sie in einem kleinen, von der HeerstraBe 
abgelegenen Dorf e am vierten Tage ibrer Wandersebaft Mit- 
tag balten wollten und, da alles auf 'm Felde war, nicbts als 
trocknes Brot und saures Bier bekommen konnten. Des 
granite sicb der alte Gulden so berzlicb, daB die bellen Tra- 
nen iiber die flucbenden Lippen flossen. 

Da er so voll verzweifelnden Hungers, auf beiden Armen 
gestiitzt, am Fenster stebt, die Nase gegen die Fensterscbeibe 
gequetscht, mit den obern Zahnen ubers Glas binfabrend, 
sieht er auf einmal aus dem gegenuberstebenden Pfarrbause 
ein altes, bageres Weib berausschreien: »Wer Lost hatt to aten 
und to drinken, dei komm her.« 

Gulden fubr mit dem Kopf gegen die Fensterscbeiben, daB 
zwei Scbeiben sprangen, als wollt' er gerade durcbs Fenster 
ins Pfarrbaus hinein; besann sich dann aber wieder, raffte 
seinen Knaben zusammen, scbrie nacb dem alten Rothbart, 

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der unterm Schecken kruinm lag, und so stiirzten sie nach dem 
Pfarrhause. Gulden konnte sich nicht enthalten, auf'm Wege 
uberlaut auszuruf en : »Das ist dock ivahr und wahrhaftig wahr : 
Wer noch Menschenliebe und Freigebigkeit in der Welt flnden 
will, der such' sie bei den Geistlichen.« 

Nun muB ich meinenLesern mit demPfarrerund desPfarr- 
hauses Geschichte dieses Tages bekannt machen. Der Pfarrer 
dieses Dorfs war ehedem in Danzig Kinderlehrer, hatte da 
unter den reichen Biirgern der Stadt taglich Freitische gehabt 
und so seinen Leib an Fleisch und Wein gewohnt. Er hatte 
zu den Geburtstagen, Namenstagen, Hochzeit-, Tauf- und 
Sterbetagen seiner Speisepatrone und ihrer ganzen Familie 
jederzeit gereimte Verse gemacht, und das erwarb ihm dann 
ein Amtchen. Die Pfarre war aber klein und warf nicht tag- 
lich Fleisch und Wein ab, deshalb richtete der Pfarrer seine 
Diat so ein, daB er taglich bei guter Zeit nach Danzig ging 
und sich da bei eineru seiner ehemaligen Speisepatrone den 
Tag wohlschmecken lieB. 

Er hatte die gute Gabe, kleine Historchen sehr weitlaufig 
zu erzahlen, und wuBte es immer so zu machen, daB jede Pe- 
riode seiner Rede mit dem Titel des Hausherrn, als : >strenge 
Herrlichkeit, namhafte Weisheit^ gestrenger Herr, hochgeehr- 
ter Herr< u. dgl. anfing und schloB. Das gefiel den guten Leut- 
chen, und sie gaben ihm da zu loffeln und zu bechern, daB er 
voll wurde. 

Fur Anstrengung seines Kopf s hatte er sich immer sorgf al- 
tig gehiitet, er konnte also etwas vertragen und fand jeden 
Abend richtig den Weg nach seinem Dorfe. Beim Abschied 
pflegte er dann immer tiefgebiickt und mit halber weiner- 
licher Stimme zu sagen: »Wann uterden dann Eure strenge 
Herrlichkeiten einmal ihren umuiirdigen Dieher die hohe 
Ehre erzeigen, ihn in seiner schlechten Pf arret ei zu besuchen 
und sich da gef alien lassen, ivas der Herr gibt?« Jeder wuBte 

45 



aber, daB er ilin nie zu Hause f and, und lieB sich also die Lust, 
zu ihm liinauszuf ahren, nicht anf echten. 

Des Sonntags war er indessen doch der Predigt wegen ge- 
zwungen, zu Hause zu bleiben, den hatte er aber Gott zu 
Ehren zu einem Fasttage und seinem Mag en zur Reinigung, 
zu einer gelinden Purganz bestimmt. Seine ganze Haushal- 
tung bestand daher auch nur aus einem alten, hagern Weibe, 
die nun scbon funfzebn Jahre bei ibm von Gebet und kalter 
Kiicbe lebte; sonntags kocbte sie sicb denn doch den dicken 
Kaffee auf, von dem der Pf arrer die Woche liber getrunken. 
Da war denn auch Raucli in des Pf arrers Schornsteine. 

Nun waren aber zwei Kaufleute aus Danzig, die die lustige 
Lebensart des Pfarrers kannten, auf den Einfall gekommen, 
ihn einmal so friih zu iiberraschen, daB sie ihn notwendig 
noch zu Hause finden muBten. Um aber doch f iir den Schreck, 
den sie dem Pf arrer abjagen wollten, nicht selbst in Hungers - 
not zu geraten, nahmen sie mit sich, was auf einen Tag fur 
sie und ihren Bedienten und Kutscher zur Leibesnahrung und 
Notdurft gehorte, als da sind: ein gebratenes Kalbsviertel, 
eine kalte Pastete, einen westfalischen Schinken, ein Stuck 
Hamburger gerauchert Pokelfleisch, ein Paar geraucherte 
Ochsenzungen, zwei braunschweigische Mettwiirste, einen 
ansehnlichen Vorrat an Butter und hollandischen, englischen 
und limburger Kase, eine Mandeltorte, drei schwarze Brote, 
zwolf weiBe; sechs Bouteillen Biieinwein, sechs Bouteil- 
len roten Wein, sechs Bouteillen englisch Bier, ein Flasch- 
chen Ratafia, auf s f ette Essen zu setzen, ein Flaschchen Gold- 
wasser f iir die bose Morgenluft und Pomeranzenessenz f iir die 
bose Abendluft; daneben hinlanglichen Vorrat an Kaffee und 
Zucker, kleine Zwiebacken und Kringeln und dergleichen 
mehr. 

So fuhren sie mit Aufgang der Sonne aus der Stadt dem 
Dorfe zu. Auf m Felde begegnen sie noch einen Bekannten, 

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der ein sehr lustiger, spaBhafter Mann ist, der da niit der 
Flinte nach Vogeln ausgeht; den bereden sie, trotz seines na- 
tiirlichen Abscheues fiir die leere Speisekammer und den lee- 
ren Keller des Pfarrers, mitzufahren und sich fiir heute mit 
ihrem geringen Mundvorrat begniigen zu lassen. Er steigt 
ein, und nun geht's im gestreckten Trab gerade aufs Dorf zu. 

Gleich, wenn man ins Dorf kommt, f ahrt man urn die Ecke 
der Kirchhofmauer herum und so in gerader Linie aufs Pf arr- 
haus zu. Das Haus hat in seiner Mitte die Ture nach dem 
Kirchhofe und eine ihr gegeniiberstehende nach dem Garten 
hintenhinaus. Beide Turen standen off en, so daJ3 man gerade 
durchs Haus den schmalen Garten lang sah. Der Pf arrer, eben 
im Begriff , seine Perucke aufzusetzen, wird die Antrabenden 
gewahr, schlagt seinen engen Schlafrock um die Beine und so, 
hast du nicht gesehn, in gestreckten Galopp zur Hintertiir 
hinaus, den Garten lang und am Ende des Gartens in ein klei- 
nes bretternes Hauschen hinein, dessen er sich taglich, aus 
Danzig kommend, zu bedienen pflegte, die Tiirklinke und 
Biegel hinter sich zu. 

Diesen Lauf des Pf arrers hatte im Wagen niemand als der 
lustige Mann bemerkt, den die Aufmerksamkeit auf die sin- 
gende Vogel, die er leider im Fahren nicht schieBen konnte, 
wach erhalten; die andern beiden Herren waren der vor ihnen 
aufgehenden Sonne wegen gezwungen, die Augen zuzuma- 
chen, und so allmahlich eingeschlafen. Jener behielt's auch 
fiir sich. Beim Stillhalten des Wagens erwachen sie, steigen 
aus und stoBen gleich an der Tiire auf die alte, hagere, fiir 
Hunger und Angst zahnklappernde Hausmagd. 

Magd; Ach du mein allerschonstes Herr Jemecke, wie ward 
seek dei lewe Herr Pf arrer schwahr argern! Es ock man den 
lichten Oogenblick wechgegangen ; weeren Sei doch man en 
kleen baten freeger gekamen! 

Kaufmann A. (fiinf FuB hoch, vier FuB breit, kurzgespal- 

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ten, sachte vor sich her schreitend, die rechte Hand auf'm 
Stockknopf , einen schlaf enden Mops vorstellend, die linke aus- 
gespreutet auf 'm Bauch, den Kop£ f est in den Nacken geprefit, 
die lange Nase mit Gewalt vorausgeschickt, die grofien run- 
den Augen starr vor sich, den Mund saugend und schlurf end 
hin und her bewegt -): Na, na, - er wird ja wohl - bald — 
wiederkommen. 

Magd: Ojemine, nee! Hei het hiede gahr schlach schwahr 
f ohl to done enr Stadt. 

Kaufmann B. (dem ersten an Gestalt ziemlich ahnlich bis 
auf die kleinen langlichen Augen, gequetschter, tief einge- 
driickten Nase und die weit hervorragenden, von Zahnfleisch 
entbloBten Zahne): Ei 3 a, da helft nun keine Herzmutter; 
nun sind wir einmal da, nun wollen wir auch dableiben. 

Magd; Ach du mein allerschonster Herr Jemecke, wenn 
man nich dei lewe Herr Pfarrer alle, alle Schlatels metge- 
nahme had; es ock nich een Kruhmen to at en onn to drinken 
buten. Alles verschlahten, alles verschlahten! 

Kaufmann A. : Na, na, laBt das man gut sein, Mutterchen, 
davor haben wir dann schon, im Fall der Not, da Gott fur sei, 
gesorgt. Johann! he, Johann! Hort denn die Schlafmiitze 
nicht? Johann! Ha — ha — ha! — Da kommt 'r hergewat- 
schelt - die dicke Sau! — wie er aussieht! - sicher is der Mehl- 
sack im Schlaf von Wagen gerollt! — Ja, reib du dir man die 
Augen, — du Schlafmiitze du, — sogar im Fahren schlaft der 

Hrm! — (in sich blickend) Na, pack du man ab unsern 

kleinen Mundvorrat und bring' ihn man immer so sachte her- 
ein: es ist mir so schon ganz quablich urns Herz. 

Magd (den langen Hals vorstreckend, die roten Augen gie- 
rig aufreiBend und starr in den Wagen kuckend, beide Hande 
vor sich ausspreutend, in sich): Ei, ei! (Der Kalbsbraten 
kommt hervor. Etwas lauter) O herrje! (Der Schinken. Laut) 
L i, herrjemine! (Die Pastete. Etwas hoher mit schwerem 
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Atem) Ach du mein allerschonster Herr Jemecke! (Die Man- 
deltorte. Noch hoher) Dat di! ... (Der Bouteillenkorb. Recht 
hoch und aus voller Brust) Dat di de Schlach onn de 
Schwollst ... 

Johann: Na, Mutter, na, so greift doch mit an! 

Magd (starr auf der Stelle bleibend, mit kurzem Atem, 
immer hoher, zuletzt fast jauchzend): Oje ja, ja, ja, ja! 

Kaufmann C. (ein kleiner, trockner,windspielricher Mann, 
mit einer feinen, durchdringenden Stimme und gelaufigen 
Zunge. Hat sich bis itzt im Garten umgesehen) : He, Mutter, 
gebt einmal 'n Tisch raus und 'n paar Stiihle; nur hierher in 
7 n Garten. Wo ist's denn hier wohl am besten? Schatten gibt's 
eben nicht viel; he, hier, hier vor dem Hauschen, 'n hiibscher 
griiner Grasplatz, so, hierher, Mutter, hierher! (Der Tisch 
und die Stiihle werden gerade vor die Ture des Hauschens 
gesetzt, in welchem der Pfarrer verschlossen AngstschweiB 
schwitzt.) 

Kaufmann A. : Gib 'nmal den Ratafia, Johann. 

Kaufmann B.; Mir doch lieber ein Schnapschen Goldwas- 
ser. Was geliebt denn Ihnen, mein wertester Herr C? 1st 
auch noch Pomeranzenessenz da. 

Kaufmann C: Meinetwegen davon: daB doch alles dran- 
kommt. 

Kaufmann B.: Ei, ei, wir konnen uns schon Zeit lassen. 
Unser Herr Pfarrer wird so wohl erst in der Kuhlung kom- 
men. 

Kaufmann C: Potz Stern! das ist ein ganz exzellenter Li- 
kor; da wiinscht' ich wohl unserm guten Pfarrer ein Glas- 
chen, fiir seinen schwachen Magen. 

Kaufmann A.; Schwachen Magen? Proste Mahlzeit, der 
nimmt's mit uns alien auf. Sie sollten ihn einmal bei mir fres- 
sen sehn, das ist seinen baren Speziestaler wert, den Bauch- 
pfaffen fressen zu sehen. Und zechen kann er, potz Velten, 

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das geht noch iiber unsern Ratsmusikanten Jobsen; und den 
kenn£n Sie doch? Na, wo bleibt denn das Essen? 

Kaufmann B. : Berxihr dich mal, Johann. 

Ich mag die Szene nicht weiter ausmalen ; man denke sich 
aber den hungrigen, gierigen, gefraBigen, gesoffigen Pfarrer 
bei Hundstagshitze in dem engen Ha.usch.en versperrt und die 
Essenden und Trinkenden laut vor dem Hauschen, wie der 
lustige Mann, den Pfarrer immer mehr zu martern, alles Es- 
sen und Getranke so herrlich findet, wie er es noch in seinem 
ganzen Leben nicht genossen: Der Kalbsbraten, das ist ein 
wahrhaftes gemastetes Milchkalb, das Messer verliert sich im 
Fett; die Pastete ist das Nonplustjltra der edlenKochkunst; 
der Schinken mufi vorher, eh er gerauchert worden, in Bur- 
gunder gesotten sein, so pikant und zart ; die Wurst und Zunge 
miissen im Rauche von Zedernholz und Aloe gehangen ha- 
ben, es ist ein gewisses Etwas dran, was sich gar nicht aus- 
druckenlafit,daswahrhafte jeintesaisquoi derFranzosen; die 
Mandeltorte zergeht auf der Zunge. Der Wein ubertrifft nun 
gar alien Ausdruck, da hort man nur schmecken, lecken, 
schlurfen, schmatzen, saugen, achzen, lechzen, jauchzen — 

Auch trinkt der lustige Mann den andern brav zu, damit 
nichts iibrigbleibe. Nach vier Stunden langer Zehrung aber 
ist alles voll bis an den Hals : Herr und Diener und Magd sit- 
zen fest auf ihren Stiihlen und keuchen. C. will aber durch- 
aus nicht, daB die noch ganz ansehnlichen Uberbleibsel in den 
Rachen des liisternen Pf arrers kommen sollten, und schickte 
die Magd aus, alles, was essen will, zusammenzurufen. Dies 
war nun der freudige Ruf , der unsern alten Gulden aus seiner 
Verzweiflung und den alten Rothbart aus seiner philosophi- 
schen Lage riB : Sie waren die einzigen, die dem Ruf e f olgten, 
denn die Einwohner des Dorfs fiihrten ihren Herrn Pfarrer 
zu sehr im Herzen, als daB die Versuchung etwas uber sie 
vermocht hatte. 

50 



Mit ungestiimer Begierde fielen Gulden Vater und Sohn, 
Rothbart und der in Leid und Freud getreue Kallax liber die 
Brosamen von des Herrn Tische her und hatten sehr bald 
alles bis auf die Knoclien verzehrt. Unterdessen diese sich ih- 
rer FreBbegierde iiberlassen, sinnen die Herren A., B., C. auf 
irgendeine angenehme V erlustierung. Dies und jenes war 
schon vorgeschlagen, aber der zu starken Bewegung wegen 
wieder verworf en. Endlich : 

Kaufmann C: Nach'm Ziel wollen wir schieBen. 

Kaufmann A.: Topp! Wo ist die Flinte und Schrot? 

Kaufmann C: Kreide, Mutter, Kreide! 

Kaufmann B.: Recht so, recht so. (Nimmt die Flinte und 
ladet.) 

Kaufmann C. : Wo ist denn nun hier das beste Ziel zu neh- 
men? 

Magd (mit Kreide): Hier, hochgeehrter gestrenger Herr, 
hier es Kried. 

Kaufmann C. (einen groBen Zirkel an der Tiire des Haus- 
chens, worinnen der Pf arrer sitzt, malend) : Hier geht's wohl 
zum best en. 

Kaufmann A.: Ei freilich, freilich. Paff ! (er schieBt.) 

Magd (die Augen starr auf s Hauschen gerichtet) : Ach herr- 
jemine, herrjemine! 

Kaufmann B. (von neuem ladend) : Was will die alte Hexe ? 

Magd (die Hande ringend) : Ach herrje,lierrje,unser lewer, 
trutster Herr Pf arrer! 

Kaufmann B. (schieBt): Paff! Das soil dem alten Bretter- 
kasten nichts schaden. Nun, Herr C, treffen Sie besser: Ein 
Schelm macht's besser, als er's kann. Wollen doch sehen, wie's 
mit der Junggesellenschaft steht! 

Pf arrer (der sich solange in die Ecke des Hauschens ge- 
klemmt, nun aber nicht langer sein Leben oder doch seine 
Lenden in Gefahr sehen kann, springt, sich die Augen rei- 

51 



bend, heraus, da G. eben im Ansclilage ist): Verzeihen die 
hochgeehrten gestrengen JHerren, ich weiB nicht, wie mir ge- 
schehen! Hab' ich geschlafen? Haben mich Schiisse geweckt? 
Hat Gott Wunder an mir getan? 

Man denke sich nun das ausgelassene Gelachter, nachdem 
die Herren A. und B. durch Herrn G. aus ihrem fetten Er- 
staunen geweckt waren. Unser Knabe, der gleich bei Erblik- 
kung der groBen Periicke auf den Pf arrer zugelauf en war, urn 
ihm die Hand zu kiissen, von diesem aber in der Angst seiner 
Seele nicht bemerkt worden, war der einzige, der nicht aus 
vollem Halse lachte; er stand mit offnem Munde da, sahe 
die andern alle abwechselnd an und lachte so mit, weil sie alle 
ohn Aufhoren lachten. 

Nun erzahlte C. in Gegenwart des Pfarrers die ganze Ge- 
schichte und notigte diesem manches heilige, bemitleidende, 
christlich-duldende und verzeihende Lacheln ab; wie's aber 
daran kam, daB er die anwesenden noch nachkauenden Gaste 
habe zusammenrufen lassen, damit auch kein Bissen fur den 
Herrn Pfarrer iibrigbliebe, trat diesem das Blut machtiglich 
zu Kopfe, und er begann den ganzen SpaB iibelnehmen zu 
wollen; wurde aber bald wieder besanftigt und getrostet, da 
man ihm versprach, ihn sogleich mit nach der Stadt zu neh- 
men unji recht hoch zu traktieren. Ilerr G. sollte den Abend 
dabei sein und den Frauen und Kindern des Hauses die Ge- 
schichte des heutigen Tages zum besten geben. Der Pfarrer 
gab seine christliche Einwilligung dazu, kleidete sich an und 
fuhr mit nach Danzig. 

Gulden zog mit seiner Gesellschaft gesattigt und iiberaus 
lustig ab. Der Knab' aber konnte lange nicht aus seinem Er- 
staunen kommen, wie man einen Pfarrer, den ihn seine Mut- 
ter immer als einen heiligen Mann Gottes vorgestellt, so zum 
Narren haben konnte. Rothbart, der erst gar nicht so recht an 
den Ruf aus des Pfarrers Hause hatte glauben woJlen, konnte 
52 



sich nicht enthalten, iiberlaut auszurufen: »Potz Pfaff und 
der Teufel! Unter hundert auch kaum einer, der's redlich 
meint und darnach tut!« 

Man denke sich's, was dabei im Herzen des Knaben ver- 
ging: mit was fur Augen er die Geistlichen nun anfing anzu- 
sehen. 

Den Nachmittag wollten sie noch ein Kloster ohnweitjCterc- 
zig erreichen, wohin sie von dem Direktor der vorerwahnten 
Komodiantenbande Empf ehlungen an den Pater Kuchenmei- 
ster des Klosters hatten. Dieser war ehedem als Tausend- 
kiinstler auf der Trompete mit der Bande herumgezogen und 
hatte sich vor einigen Jahren bei dem Abt des Klosters, Seiner 
Exzellenz dem Herrn Grafen von ***, mit seiner Trompete 
produzieret. Es war damals eben der Pater Trompeter von ih- 
rem Chor gestorben, und da dieser Reisende die Stelle sehr 
gut fiillen konnte, hatten sie ihn zur Anderung seiner Reli- 
gion und zum geistlichen Stande beredet. Durch vorziigliches 
Talent im Fressen und Saufen hatte er die besondere Gnade 
Seiner Exzellenz und durch diese das sehr eintragliche Amt 
des Pater Kiichenmeisters erhalten. 

Gulden wuBte das alles und war nicht wenig wegen Ver- 
fiihrung seines Knaben besorgt. Man hatte ihm aber auch ge- 
sagt, der Abt sei ein sehr freigebiger Mann fur alles, was ihn 
kiitzelt, und das iiberwaltigte dann seine Gewissensskrupel. 

Er unterlieB indessen nichts, den Knaben fur Verfiihrung 
zu sichern: malte ihm die katholischen Geistlichen als einge- 
fleischte Teufel ab, die in der Welt umhergingen, Menschen- 
seelen zu verfiihren und die Holle damit zu versorgen; be- 
schwur's ihm bei alien Teufeln, daB alle Katholiken ewig 
in der Holle brennen miiBten, und tausend dergleichen ab- 
scheuliche Dinge mehr. Der Knabe, der des Vaters schonen 
Ausruf iiber die lutherische Geistlichen und die drauf fol- 
gende Geschichte noch sehr warm im Herzen hatte, antwor- 

53 



tete weiter nichts als: »Das werd' ich meiner lieben Mutter 
nie zu Leide tun, da0 ich 'da in so'n Kloster bliebe.« 

Eben, da sie im Kloster ankamen, es war so nach f iinf Ulir 
nachmittags, brachten zwei baumstarke Geistliche den so- 
eben gesattigten Abt, unter den Armen gef xihrt oder vielmehr 
getragen, die groBe SchloBtreppe herunter; unten stand ein 
verschmitzter Stalljunge mit dem Reitpferde Seiner Exzel- 
lenz, so Hochdieselben eben besteigen wollten, und daneben 
ein dritter hochgliihender Geistlicher mit einem groBen gold- 
nen Pokal, den Seine Exzellenz zu Pferde sitzend noch auszu- 
leeren pflegten. Indem Seine Exzellenz mit heftigen Bewe- 
gungen im Ober- und Unterleibe aufsteigen, sagen Hochdie- 
selben zum Stallkneclat, ein Junge, sects Spannen hoch, das 
Pf erd an den Hiif ten kutzelnd : »Hast du mein liebes Lieschen 
auch gut gefiittert?« 

Reitknecht: O ja, Euer Exzellenz, es liatte sich schon lange 
satt gegessen, da Euer Exzellenz noch fraBen. 

Der Herr Abt, der sich seit funfundzwanzig seelenruhigen 
Jahren so dick und dumm gefressen und gesoffen, daB man 
ihn lang zwicken und kneipen konnte, eh er's fiihlte, lachte, 
daB ihm der Bauch und der Gaul unter ihm schutterte iiber 
den Sprachfehler des dummen Bauerliimmels. 

Gulden, der ihm. nun schon ziemlich nah' ist, nimmt dieses 
bauchschiitternde Gelachter fiir ein erwiinschtes Zeichen des 
Gef aliens an ihm und seinem Zuge, springt von seinem drug- 
lichten Schecken ab, umfafit den vierten Teil der Lende Sei- 
ner Exzellenz des Herr Abt und bittet um gnadige Protek- 
tion. Dieser halt ihn fiir einen Landmann aus seinem Gebiete, 
der sich iiber einen eben neu auf gelegten Scharwerkstag furs 
Kloster beschweren will, und briillt: »Ihr Hollenhunde ihr, 
ich will euch geiBeln lassen, wenn ihr mich f erner in meiner 
Ruhe stort! Geht zum Pater Kiichenmeister ; kann euch der 
auch nicht helfen, so kann er euch doch eins blasen, hahaha!« 

54 



Gulden beruft sich auf seine Empfehlung an den Pater 
Kiichenmeister, und nach langem Hinundherreden gelingt's 
ihm, sich endlich kenntbar zu machen. Der Abt befielilt so- 
gleich, fur diesen Abend Musik zu veranstalten, macht sei- 
nen gewohnlichen Nachmittagsritt, von dem er immer den 
schwarzen Rock sehr voller Federn zuriickbrachte, etwas kxir- 
zer und ist urn sieben Uhr wieder da. 

Unsre Reisende stehen nun schon in der Ecke des Saals in 
volligem Putz da, die Geigen unterm linken Arm, den Bogen 
in der rechten Hand. Der alte Gulden stiirzt, seinen Jungen 
mit fortziehend, dem Abt entgegen und kiiBt demiitigst den 
Rockzipfel Seiner Exzellenz, indem er mit der linken Hand 
den Jungen an das rechte Knie des Abts anpreBt. Vergeblich 
bemiiht sich der keuchende Abt, iiber seinen Bauch wegzu- 
sehen, um den Knaben unter diesem zu erblicken, noch ver- 
geblicher, sich zu biicken, um den Knaben aufzurichten. Ein 
christkatholischer Blick und Schnarcher setzt aber den nach 
Luft schnappenden und schweiBtrocknenden Pater Prior in 
fast merkliche Bewegung, er hebt den Jungen mit Hiilfe des 
alten Gulden, der druber seine Geige f allenlaBt, auf und stellt 
ihn vor dem Abt auf ein em Stuhl hin. 

Abt: Bei meinerSeei', ein hubs cher Jung! (ihm mit geteiltem 
Zeige- und Mittelfinger leise uber die Backen nach dem Kinn 
hinabfahrend) ein schoner Jung! Wie alt bist du,Kerlchen? 

Knabe (schnell und frei) : El . . . 

Gulden (ihm noch schneller in die Rede f allend) : Sieben 
Jahr, Euer Durchlaucht, eben im vorigen Monat sieben Jahr 
gewesen und niacht Wunder auf seiner Geige. 

Abt (den Knaben bei der Hand haltend und ihm mit der 
verkehrten Hand sanft in die hohle Hand streichelnd) : Hast 
auch ein hubsch Patschgen dazu; (zum Pater Prior mit glan- 
zenden Augen und weiten, schlagenden Naslochern) ein recht 
weiches, warmes Patschgen. Liistet's dir nicht, alter Bock? 

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Pater Prior (sich gleiBnerisch verneigend und aus den hoh- 
len Augen verstohlen hinaufblickend) : Der Herr geht vor, 
der Diener folgt. 

Abt; Alter Schalk! (Zum Jungen, ihm sanft in die Lippen 
kneipend) Nun laB emal horen, was du kannst. (Zum Pater 
Prior in die Ohren sprechend, sich die Lippen leckend, mit 

der rechten Hand in den Busen fahrend, mit der Linken 

Der Pater Prior saugt dabei am Daumen seiner linken Hand 
und blickt starr seinen ausgestreckten kleinen Finger an.) 

Der Junge spielt, findet groBen Beifall, fast bei jedem Takt 
erschallt ein lautes Bravo, nach jedem Stuck lautes Handege- 
klatsch; er muB den Abend beim Essen neben dem Abt sitzen, 
soil auch in des Abts Zimmer schlaf en, da widersetzt sich aber 
der Alte, der nun schon nichts gewisser als Religionsverande- 
rung befurchtet, aus Leibeskraften, bittet mit Tranen, ihm 
sein Kaptalchen nicht zu entreiBen, schwort bei alien Teuf eln, 
er konne kein Auge zutun, wenn der Junge nicht bei ihm 
ware. Das hatte Seine Exzellenz nun eben wenig gekiimmert, 
aber Hochdieselben scheuten sich denn doch, langer darauf 
zu bestehen,und befahlen,den Jungen morgen vor dem Friih- 
stiick, das er gewohnlich im Bette verzehrte, zu ihm zu fiih- 
ren. 

Es war um Mitternacht, da sie von Tafel aufstanden und 
der Abt den Knaben mit einem saftigen, beleckten Kusse gna- 
digst zu sein em Vater entlieB. Dieser hatte den Abend mit 
den jungen Geistlichen in einer ganz neuen Welt gelebt. In 
seinem Leben hatte er noch nicht soviel Speisen gesehen, ge- 
rochen, nennen gehort, als er hier selbst zu verschlingen be- 
kam, in seinem Leben nicht soviel Branntewein getrunken, 
als er hier ungarischen Wein verschluckte. Und da der Knabe 
ihm von der graflichen Tafel noch groBere Wunder erzahlte, 
vergingen ihm gar die Sinne. 

So gemein auch den Klosterabten das groBe Talent zum 
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Saufen zu sein pflegt, so ungemein war doch dieses Abts Me- 
thode, sich niichtern zu saufen. Ich will sie deshalb erzahlen. 
Er soff sich alle Abend voll. Die Probe, ob er auch wirklich 
schon ganz voll sei, war die, dafi er sich mit beiden geballten 
Fausten aus Leibeskraften auf den Armlehnen seines Sessels 
stutzte und so mit Anstrengung Leibes und der Seelen ver- 
suchte, ob er sich von dem weich gepolsterten, tief einsinken- 
den Sitze noch etwas erheben konnte; ging das noch so, daB 
er nur noch die geringste Bewegung des Hintern verspiirte, 
so wurde noch eine neue Sorte Wein gegeben. Konnte er sich 
aber mit aller Gewalt nicht mehr ein Haarbreit vom Sessel 
erheben, dann war er wirklich voll, und dann brachte der Pa- 
ter Kellermeister eine ungeheure Schale Punsch, wovon der 
Abt so lange soff, bis er wieder niichtern wurde und aufstehn 
konnte. 

Auch hatte er seine eigne Methode im Fressen, um von al- 
ien vierundzwanzig warmenSchiisseln und ebenso vielen klei- 
nen Beisatzen genieBen zu konnen: Wenn er bei der zehnten, 
zwolften Schiissel nicht mehr fortkonnte, ging er hinaus, 
applizierte den langsten seiner Finger und kam mit neuem 
Raume fur die librigen Speisen wieder zuriick zur Tafel. 
War's den Kochen recht gut geraten, so geschah dies man- 
chen Mittag wohl drei, vier MaL 

Auf Befragen des Vaters, was so bei Tafel wohl gesprochen 
worden, was der Abt zu ihm gesagt, fing der noch fast un- 
schuldige KnaV an, Historchen und Schweinigeleien zu er- 
zahlen, die er zum Teil gar nicht verstanden hatte und sie 
itzt so wortlich, wie er sie gehort, wieder erzahlte. Nachdem 
sie der Vater fur sein Teil belacht hatte, machte er ihm die 
abscheulichen Schwanke verstandlich, um ihn nach seiner Art 
von der Gottlosigkeit der katholischen Geistlichen desto leb- 
hafter zu uberzeugen,undwiederholte die ganzeFeuerpredigt 
von gestern. Befahl ihm aber dabei das demutigste, unterwor- 

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fenste Betragen gegen den Abt gar sehr an, damit ihnen ilir 
Geschenk niclit geschmalert wiirde, worauf der Vater schon 
so sicher reclinete, daB er die Heine Miinze in seiner recliten 
Hosentasche oft in Gedanken fiir Goldstiicke zahlte. 

Sie waren in ein groBes, weites Zimmer zum Schlafen ge- 
fiihrt, worinnen zwei groBe Gardinenbetten mit damastnen 
Uberziigen und Vorhangen standen. Hier ergriff der Vater 
mit Freuden die Gelegenheit, dem Knaben einen recht hohen 
Begriff von der Unvergleichlichkeit des Virtuosenstandes bei- 
zubringen: lebrte ihm, wie fiir einen Virtuosen nichts in der 
Welt zu gut sei; wie ibn Fiirsten, Konige und Kaiser auf 
Handen triigen; -wie ibm daher alles erlaubt sei, wie der Kai- 
ser wohl hundert Fiirsten und Grafen machen konnte, aber 
keinen Virtuosen; wie dieser, unterdessen daB mancher groBe 
General auf freiem Felde auf Strob schlaf en miiBte, in seide- 
nen Betten bis an den Mittag sicb ausstrecken konnte — Hie- 
bei schlug der Vater die Decke des Betts auf und wollte die 
Kopfkussen zurechtlegen, wnrde aber eine Menge langsam 
kriecbender Tiere gewahr, mit denen des Knaben Kopf schon 
binlanglich versorgt war, und sah sicb nach langen vergeb- 
lichen Beratschlagungen gezwnngen, mit seinem Jungen auf 
dem FuBboden zu liegen und sich mit Pelzen zu bedecken. 

Den andern Morgen waren Seine Exzellenz ganz unge- 
wohnlicherweise friib um acbt Uhr schon erwacht und ver- 
langten sogleich nach dem Knaben. Eine Stunde spater sollte 
das Friihstiick gebracht werden. Der Knabe wurde geholt. Der 
Vater begleitete ihn bis ins Vorzimmer und gab ihm da noch 
einmal die weise Lehre, sich ja recht submifi gegen den Abt 
zu betragen, auch nicht Mode zu sein, sondern hubsch dreiste 
zu antworten. »I warurn nicht«, erwiderte der Knabe, »is ja 
auch man ein Mensch.« 

Kaum war der Knabe dem Abt so nahe, daB er ihn aus 
dem Bette erreichen konnte, so ergriff dieser mit Inbrunst die 

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zarte, weiche Hand des Knaben, und trotz all seines Straubens 
und Zuriickziehens 

Mir gehen die Augen iiber beim Gedanken der teuflischen 
Veirfiihrung der Unschuld. DaJB sie dir, du alter geiler Bock, 
verdorrt ware, die Hand, die die unschuldige, sundenfreie 
Hand zum Laster f iihrte ! 

Unterdessen der Vater in dem Vorzimmer auf die Zuriick- 
kunft des Knaben wartete, gesellte sich ein alter, liebreicher, 
ehrwiirdiger Pater zu ihm und sagt' ihm mit ernster, eindrin- 
gender Stimme, mit zitterndem Handedruck: »TVenn du dein 
Kind lieber hast als Geld und Gold, so fLieh' den Augenblick 
von hier. Bedenke, daji du einst Rechenschaft fiir ihn geben 
muJ3t.« So verlieB er ihn. Gulden zitterte am ganzen Leibe, 
wollte all Augenblick an die verscblossene Tiire pochen, hatte 
doch aber nicht das Herz dazu, sondern wartete, bis der Pater 
Koff eeschenker mit dem Fruhstiick kam ; den bat er, ihm den 
Jungen herauszuschicken. 

Der Junge kam voll Scham und Verwirrung mit gliihenden 
Backen heraus. Da er aber auf des Vaters ungestiime Fragen, 
ob ihn der Abt habe wollen zur katholischen Religion bere- 
den, heilig beteuerte, er habe kein Wort ihm davon gespro- 
chen, wurde der Alte wieder ruhig, befiirchtete weiter nichts 
und vergaB beim schwelgerischen Fruhstiicke in der Kiiche, 
in der Zuckerbackerei, in der Apotheke und dem Keller die 
weise Erinnerung des guten Paters ganzlich. 

Den folgenden Tag fuhr der Abt nach Danzig, wollte den 
Knaben zu sich in den Wagen nehmen, allein der Alte 
straubte sich gar sehr und erhielt die Erlaubnis, ihn bei sich 
zu behalten, mit dem Beding, ihn noch denselben Abend sei- 
ner Ankunft in Danzig zum Abt zu fxihren. Dabei schenkte 
der Abt dem Kleinen eine Dose von Agat in Gold gefaBt, mit 
einem doppelten Deckel, unter dem obersten ein fiir den noch 
halb unschuldigen Knaben lehrreiches Gemalde; und dem 

59 



Alten zwolf Dukaten. In vollem Jubel iiber den gliicklichen 
Anfang'ihrer Virtuosenreise zogen sie nun nach Danzig. 

Gulden hatte gehort, daB die reisenden Virtuosen jeder- 
zeit in den groBten Gasthofen einzukehren pflegen, und be- 
schloB, ein gleiches zu tun. Weil er aber befiirchtete, man 
wiirde ihm des lacherlichen, armseligen Aufzugs wegen in 
einem groBen Gasthofe nicht aufnehmen, so setzte er sich erst 
in einem Wirtshause vor der Stadt mit seinem Knaben und 
treuen Rothbart in volligen Staat und lieB seinen Karren mit 
dem Bretterkasten durch einen gemieteten Schiffsjungen hin- 
ter sich her fuhren. 

So kamen sie vor dem Gasthofe an und meldeten sich als 
reisende Virtuosen, die soeben zu Schiffe von Petersburg ka- 
men. Da ihnen der phlegmatische Wirt mit fettem Lacheln 
iiber den possierlichen Aufzug fragte, ob sie im untersten 
oder obersten Stock logieren wollten, entriistete sich der un- 
ruhige, besorgte Gulden gar sehr, wie an ehrliche und groB- 
beriihmte Leute, die in ihrem Leben noch keine Stunde im 
Stock gestanden, eine solche kanalgesche Frage ergehen 
konnte. Mit fettem Lacheln erwiderte der Wirt, er hab' ihn 
falsch verstanden, er meine, ob die Herren unten oder eine 
Treppe hoch wohnen wollten. 

Gulden (dem dicken, auf 'm Rande der Tiirbank sitzenden, 
hangenden Wirt auf 'n Leib f allend und ihn auf den rechten 
FuB tretend): Ei, ganz gehorsamer Diener, so, so! Na, horen 
Sie man an, wo so die besten Stuben sind. Mein Sohnchen ist 
ein Wunderwerk, das sehn Sie ihm wohl nicht an ; komm her, 
Heinchen, er hat vor Kaiser und Konige gespielt und noch 
gestern mit einem groBen Fiirsten von einem Teller gegessen 
und aus einem Kruge getrunken. 

Wirt (mit dem linken FuB sachte iiber den rechten her- 
fahrend): Mogen doch meinetwegen groBe Fiirsten auf'm 
Wasser herumschwimmen, wenn der Herr nur meinen gro- 
60 



Ben Zeh ungeschoren gelassen hatte. Marie, mache mir war- 
men Wein zu Umschlagen. 

Nun wurden sie oben in die besten Zimmer des Hauses ge- 
fiihrt. Es war ein groBes Zimmer, nebenan ein kleineres zum 
Schlafen und daneben eine Kammer fur den Bedienten. Das 
grofie Zimmer war nach landesiiblicher Art aufs beste aufge- 
putzt. Die Wande besetzt mit sehr kxinstlich gearbeiteten, spie- 
gelblank gebohnetenSchranken von Eichenholz, ausgelegt mit 
Figuren aus dem Tierreich und Geisterreich von Ebenholz 
und Elfenbein, auch an den Randern verbramt mit kiinst- 
lichen Schnitzwerken aus Ebenholz. Die hohen Schranke bis 
an den Balken auf schrag hinanlaufenden Gelandern besetzt 
mit japanischen und chinesischen Porcelain -Figuren und 
-Tassen. Unter den FiiBen der Schranke, die allerlei Figuren, 
als Mohren, Affen, Lowen, vorstellten, kleingeschnittne Tan- 
nen mit roten Apfeln und Kalmus gestreut; ebenso um die 
rehfiiBigen, mit Moppchensteine ausgelegten Tische und 
kiinstlich gearbeiteten hohen und schweren Stuhle mit blu- 
michten, hie und da verguldetem Leder beschlagen. Spiegel, 
an den Seiten mit griinen, roten, gelben und blauen Glase 
ausgelegt und mit ungeheuern vergoldeten Rahmen, die die 
Fenster zu beiden Seiten iiber die Halfte bedeckten. IJber das 
schmale, griingelblichte Spiegelglas eine Decke von schwar- 
zem Flor, die es besser fur itzt lebende Fliegen bewahren 
sollte, als es im vorigen Jahrhundert bewahrt worden. Drei- 
fache Vorhange vor den Fenstern, bis zur halben Hohe der 
Fenster aufgezogen, da ruheten sie unter den unzahligen Fal- 
ten und Trodlen der obern Verzierung. In den Ecken der 
Stube schmale, hohe, oben spitz zulaufende Glaserspinden, 
angefullt mit unzahligen Pokalen von sehr verschiedenen 
Formen und verschiedenen groBen, beriihmten Saufern her- 
stammend. In den kleinen Glasern waren seit funfzig Jahren 
eine Menge bunter Ostereier aufbewahrt, mit eingekratzten 

61 



Denkspriiehen und heiligeii Gemalden. Die Schranke unter 
den Glasspinden waren zu- einem Pfeif enkabinett von Kalk- 
pf eif en bestimmt und bereits fast ganz damit angef lillt. 

Der Wirt hatte namlich seit funfzig Jahren darauf gehal- 
ten, daB jeder Gast, der bei ihm einkehrte, auf die Pfeife, die 
er da geraucht, beim Abschiede seinen Namen gezeichnet, 
und so wurde denn die Pfeife sorgfaltig aufgeboben. Des 
Wirts groBte Freude war's, einem Gast, der zum andern Male 
da einkehrte, seine gezeichnete Pfeife zu geben: Wesbalb die 
Pfeif en audi alle nacb dem Alphabet geordnet und in ein gro- 
Bes Bucb eingetragen waren. 

Auch waren die kleinen, schmalen Fensterscheiben bedeckt 
mit Namenziigen und Denkspriiclien von fettgemasteten 
Witze. Die Seitenwande an den Fenstern und das Gesims 
urn die Tiiren herum waren ausgelegt mit Moppchensteine, 
auf jeden Stein drei blaue Schafe gemalt. Noeh ragten hie 
und da hinter den Schranken alte Familiengemalde hervor: 
dort durch eine kleine Offnung zwischen zwei Schranken eine 
groBe, fette Hand, einen Pokal haltend, hier eine kurze, 
fleischwelligte Stirn mit einer ungeheuern gekrauselten Pe- 
riicke, da drei Seitenknoten einer Periicke, hier eine voile, 
fette Weiberhand, einen Schaf erstab haltend, usw. 

Kaum hatte Gulden den glattgebohneten Boden dieses Zim- 
mers mit angstlichen Schritten betreten, als ihm der Wirt 
wohlmeinend ermahnte, sich darinnen alles Hausens zu ent- 
halten. »Hier die Schranke, sehen der Herr nur, stehen auf 
den gar hubsch gedrechselten kuriosen FiiBen nicht so recht 
f este, und wenn da, verstehn Sie mich, der kleine Mann Got- 
tes wo anlief e oder sich dranlehnte oder dranstieBe oder sonst 
irgendeine Bewegung daran machte, sehe der Herr nur, so 
wiirde mein schones, wunderseltnes chinesisches und japani- 
sches und asiatisches Porcelain zum langsten gedauert haben 
und sonder alien Zweifel kapores gehen. Deshalb wollt 9 ich 

62 



denn wohl so den Herrn ohnmaBgeblich bitten, diesen schma- 
len Deckenstreif lieber gar nicht zu uberschreiten; auch wollt' 
ich ohnmaBgeblich bitten, die Stiihle nicht von der Stelle zu 
nehmen, damit die daruntergestreuten neckschen Figuren von 
Tannen und Kalmus, uber denen meine Tochter den ganzen 
verwichenen Sonnabend zugebracht, nicht verschoben wer- 
den; auch wollt' ich ohnmaBgeblich bitten, die Fenster ja 
nicht zu offnen, damit keine Fliegen hereinkommen, die mir 
die Vorhange und Glasspinde besudeln konnten, mir auch 
wohl gar meinen chinesischen Kaiser eins auf die Nase 
schmeiBen, hahahahahaha. Auch bitt' ich deshalb gar sehr, 
sich alles Essens und Trinkens in diesem Zimmer zu enthal- 
ten. 

Dafiir konnen aber derHerr hier nebenan inlhremSchlaf- 
zimmer Ihr Wesen nach Belieben treiben. Jedoch wollt' ich 
ohnmaBgeblich bitten, sich in den Betten alles iibermaBigen 
Schwitzens und anderer verunreinigenden Dingen zu ent- 
halten, damit mir die schonen Betten von lauter Eiderdaunen 
undhollandischerLeinwand nicht verdorben werden. Eshaben 
Fiirsten und Graf en in den Betten gelegen und jederzeit solch 
Wohlgef alien daran gefunden, daB sie des Morgens, wenn 
ihnen die Aufwarterin den Koffee brachte, immer nicht her- 
aus -wollt en. 

Ich habe den Herrn hierumnurwohlmeinend und ohnmaB- 
geblich bitten und raten wollen, denn iibrigens finden der 
Herr hier in der Mauerspinde ein groBes Buch, worinnen ganz 
genau aufgezeichnet ist, was ein jedes dieser Stiicke bis auf 
die kleine glaserne Maus, die da neben dem Kaiser von Japan 
steht, gekostet und wornach es mir der Herr bei vorf allenden 
Schaden zu vergiiten belieben werden. Die Summe von denen 
in diesen beiden Zimmern befindlichenGeratschaften betragt, 
wie das groBe Buch ausweiset, zweitausendachthundert Taler 
in Golde.« 

63 



Gulden blieb wie versteinert stehen, fiihlte ganz das Elend 
des zwangvollen Uberflusses, wiinschte sich mit Tranen in die 
Kuchenstube und war' auch sicher spornstreichs hingelaufen, 
hatt' ihn nicht Ehre, Virtuosenehre, auf dem schmalen Decken- 
streif gehalten. Noch traute er sich nicht, quer iiber das Zim- 
mer zu gehen, bei jeden Tritt zitterte er, die Schranke moch- 
ten dadurch erschiittert werden und irgendein chinesischer 
Konig oder japanischer Papst auf seine Rechnung die Reise 
vom Schrank auf den Boden machen. 

Mit staunenderVerwunderungstarrt'er all die kunstlichen 
Figuren lange an, dann ergriff er den Jungen und drohte den 
mit hundert Priigel, wenn er sich je unterstande, iiber die 
Decke zu gehen; er war nah dran, seine Bosheit iiber das 
Zwangvolle seiner neuen Lage an den armen Jungen aus- 
zulassen und den fur das nachstemal, daB er wohl iiber die 
Decke gehen konnte, zum voraus abzupriigeln, als er plotz- 
lich durch einen fiirchterlichen Larm iiber seinem Kopfe auf- 
geschreckt wurde. 

Lange horchte er vergeblich darnach, was es wohl sein 
mochte, endiich schlich er sachte die enge Windeldreppe hin- 
an, der Knabe hinter ihm. Kaum Avar er auf der Mitte der 
Treppe, so sturzte ihm ein junger, braun mit Silber geklei- 
deter Mann entgegen, hinter ihm drein ein kleiner, lahmer, 
einaugigter, dickkopfigter, groBnasigter, groBmauliger, lang- 
ohriger, kraushaariger, bis aufs Hemd ausgekleideter Kerl, 
mit dem FuBgestelle eines groBen Notenpults auf ihm schla- 
gend und aus Leibeskraften rufend: »Bugerone, du Ver- 
fluckter, will dick lern, kom mein Tockter karessier ohn mein 
Permission /« 

Gulden klemmte sich aus Leibesvermogen hart an das Trep- 
pengelander, um nicht mit fortgerissen zu werden, wurde aber 
demohngeachtet samt seinen Jungen um und um gelauf en 
und bekam zwei harte Schlage mit dem Notenpult. Unter- 
64 



dessen sich Gulden aufraffte und zu alien Seiten vergeblich 
nach Blut fiihlte, kam der alte Kerl wieder heraufgehinkt 
und wandte sich sehr demiitig an Gulden, der nun vollends 
oben -war: »Pardonier' Sie, daj3 ick Sie in mein terrible grof3 
Rage 'ab touchiert. 'at sick verfluckter Bugeroiste mit mein 
Tockter karessiert, ohn mit mir zu 'ab akkordiert, un hat sick 
dock Gelte ivie 'eu. Mit zuer 'ab ick die Ehre zu sprecke?« 

Gulden erklarte sich nun liber die unermeBliche Geschick- 
lichkeit seines Jungens in der Violine und liber die hohe Ehre, 
die er bei hohen Potentaten deshalb schon genossen. Mit freu- 
digem Jauchzen erwiderte der Alte, er sei auch ein Sanger, 
habe in Petersburg lange die erste Rolle in der Opera buffa 
gespielt, und seine Frau und Tochter waren die ersten Sange- 
rinnen in der Welt; es freute ihn iiber alle MaBen, Gulden 
kennenzulernen ; sie wollten gemeinschaftliche Sache machen, 
zusammen ein Konzert geben, zusammen weiterreisen und 
>macken groj3 W under <. 

Nun fiihrte er Gulden zu seinen Damen und schrie, eh' er 
noch die Tiire halb offen hatte. »Is kein Unglick grofi, das 
nick 'ab Klick. 'ab ick kepriekelt verfluckten Bugerone, bin 
ick kef all auf dies Monsier, un is en groft Virtuos auf Vio- 
line.« 

Mitten in der Stube saB auf einem kleinen Stuhl ein un- 
geheuer dickes Weib in blofiem Hemde, das vorn bis auf den 
Nabel ausgeschnitten war, die Armel hoch aufgekremt, die 
grauenHaare, vermischt mit schwarzem Pf erdehaar, auf einer 
Seite f risiert, auf der andern noch urn denKopf herumhangen, 
und suchte vierHunden, die sie auf demSchoBe hielt, die Floh 
ab. Dies war die Frau des Alten. 

Zur Seite stand die Tochter halb im Hemde, denn sie hatte 
einen kurzen, rotfrieBenen Rock an, der ihr doch fast bis an 
die Waden ging und unter dem nur hier und da einzelne 
Fetzen des zerrissenen Hemdes hervorblickten. Oberwarts war 

65 



sie bloB mit dem Hemde bekleidet, jedoch die Haare bereits 
hoch frisiert und mit dreizehn verschiedenen Zitteraadeln 
und Stutzfedern geschmiiekt. Sie stand vor dem Ofen, in des- 
sen Rohre sie ihrem Heiligen einen Altar erbaut, und klebte 
eben neue Bildercben an, die ihr der junge Kaufmann ge- 
bracht, den der alte Vater so unhoflich von ihrem Bette auf 
die StraBe begleitete. 

Die Tocbter drebte den Ankommenden den Riicken zu und 
wollte sicb nicbt umkehren, schmollte noch gar sehr mit dem 
Herrn Papa, da er so impertinent gewesen, sie in ihrem Ver- 
gniigen zu storen; und da er sie mit Gewalt notigen -wollte, 
die Gaste f reundlieh zu empf angen, straubte sie sicb mit Macht 
und scbwur ibm, ohne nacb den Gasten hinzusehen, er mocht 7 
ihr nun auch zuf iihren, wem er wollte, und wenn er auch den 
besten, eintraglichsten Akkord gemacht, so wiirde sie ihn 
nicht annehmen und in nichts willigen, bis er ihr den jungen, 
eben vertriebnen Kaufmann wiedergeholt hatte. 

Er ergriff eben die groBe Feuerzange, mit der er vorher 
der Frau die Papillotten gebrannt, und wollte iiber die hals- 
starrige Tochter herf alien, als ein altes bucHichtes Weib mit 
groBemZettergeschrei hereinstiirzte und verkiindigte, dieKatze 
habe si eben von der Mademoiselle ihren Vogeln gef ressen. Der 
Alte, der da meinte, es sei eine von den fiinf Katzen, die die 
Frau und Tochter im Zimmer hatten, ging nun auf die Kat- 
zen los, die unterm Ofen lagen, und schlug jammerlich drein. 

Dies trieb die Frau Gemahlin, die die Katzen gar sehr 
liebte, in grofien Harnisch; sie warf die Hunde vom SchoB 
und fiel mit gekriimmten Fingern den alten Herrn Gemahl 
in die Haare. Die Hunde, die nur unter den Augen ihrer 
Gebieterin fromm waren, fielen nun dem alten Gulden und 
seinen Jungen in die Beine. 

Die Tochter war indessen in die Kammer gelaufen, die 
Leichnamme zu beweinen, kam aber itzt auf das angstliche 

66 



Zuhulferufen ihres Vaters herbeigeeilt. Dieser versprach ihr, 
den jungen Kaufmann zu holen, sie sollt' ihm nur von der 
Mutter erlosen. Da fiel sie iiber die Mutter her und wandte 
alle Gewalt an, sie mit StoBen und Kneipen vom Vater ab- 
zubringen. Die Alte hatte sich nun aber einmal so verbissen, 
daB sie nicht wieder los konnte, rief aber das alte bucklichte 
Weib zur Hiilfe, die dann mit Kratzen und Quieken uber die 
Tochter herfiel. So war die vierstimmige italienische Fuge 
eben in vollem Gange, da ein kleiner Junge hereinstiirzte und 
deni Alten zuschrie, die Schokolatensuppe lief ins Feuer. 
Dies war fur alle der starkste Bewegungsgrund, den Alten 
loszulassen, der dann ganz zerkratzt und zerzaust in die Kiiche 
eilte, die Suppe zu retten. 

Gulden hatte sich wahrend derPriigelei mit tausend Bocks - 
spriingen die Hunde abzuwehren gesucht, war sie aber nicht 
eher losgeworden, als bis die Stubentiire aufging, da dann 
die Hunde die seltene erwiinschte Gelegenheit ergriffen, sich 
in Freiheit zu begeben, und seit langer Zeit einmal das Gliick 
genossen, ohne Hofmeister und Aufseher ihre Notdurft zu 
verrichten. 

Darauf zog sich Gulden die Stief eln ab, um zu sehen, ob die 
Bisse der Hunde durchgekommen waren, und da er sah, daB 
das Blut durch den Strumpf kam, warf er voll Bosheit den 
Stief el weit von sich unter die Streitenden und traf damit die 
Alte an ihrenlinken FuB,woran sie seit zwanzig Jahren einen 
offnen Schaden hatte. Kaum hatte diese nun ihre Hande von 
ihrem Manne abgezogen, als sie iiber den alten Gulden her- 
fiel. Die Tochter, die ihn fur einen von ihrem Vater ihr zu- 
gefiihrten Liebhaber hielt, konnte sich nicht enthalten, ihre 
Bosheit in gleichem MaBe an ihn auzulassen. Das alte buck- 
lichte Weib, die in solchem Gefechte gewohnlich die dritte 
weibliche Person abgab, unterlieB nicht, auch ihre Hande ins 
Spiel zu mischen. 

67 



Gulden, der den streitenden Haufen au£ sich herfallen sah, 
hielt's nicht fur ratsam, den Anfall abzuwarten, sondern reti- 
rierte sich in eine Ecke der Stube und verpalisadierte sich 
mit Stiihlen; da er aber nichts in Handen hatte, auch zu enge 
stand, urn den Degen zu ziehen, konnt' er nur mit Speichel 
auf sie f eiern, den er ihnen dann auch in niclit geringer Quan- 
titat ins Gesicht spie. Dadurcli schwoll die Wut der Weiber 
dermafien an, daB sie ihn mit verdoppelten Angriff aus seiner 
Schanze heraustrieben, und nun hattet ihr den alten Gulden 
auf seinen Striimpfen sehn sollen aus einer Ecke des Zimmers 
in die andere springen. 

Der Junge, der sich lange aus Leibeskraften vergeblich be- 
miihte, die Weiber bei den Rocken und Handarmeln zuriick- 
zuziehn, bekam endlich von der hinten ausschlagenden Frau 
Mama einen Pantoffelschlag an die Nase, daB sie ihm blu- 
tete; er eilte also ins Vorhaus, um den Alten und alles, was 
da war, zur Hiilfe zu rufen. Der Alte brachte indessen erst 
seine Schokolatensuppe in Sicherheit und kam nun mit der 
vollen Schussel herein, gebot denen eben bei ihm Vorbei- 
springenden Waffenstillstand und drohete, wo nicht, ihnen 
alien die heiBe Suppe iibern Kopf zu giefien. 

Auch kam mit ihm ihr alter Bedienter, der den Vormittag 
liber mit Ratzenpulver, Zahnpulver und Leichdornpflaster in 
der Stadt herumgegangen, und half seine gebietende Damen 
zur Ruhe bringen. 

Gulden, der ganz atemlos und wie gekocht am ganzen Leibe 
war, warf sich unter tausend Schimpfworten und Fluchen, 
die sie alle nicht verstanden, auf einen Stuhl. Der Knabesuchte 
ihm die Stiefeln zusammen, von denen einer auf dem Ofen 
gefunden wurde, und nun kleidete sich Gulden wieder ah. 
Vergeblich bemuhte sich der Alte, zu erf ahren, was eigentlich 
die Schlagerei zwischen ihnen veranlaBt; die Alte schimpfte 
unablassig in tausend italienischen Schimpfworten auf Gulden 
68 



und dieser in nicht weniger deutschen S chimp f wort en auf die 
Weiber. 

Der Alte kannt' indessen seine Welt und bat den Gulden, 
diesen Mittag mit ihnen vorliebzunehmen ; der Frau sagte er 
ins Ohr, sie konnten groBe Vorteile von Gulden ziehen, und 
so wurden beide gelassener und trunken einen Schnaps Dan- 
ziger auf die Argernis. Die Suppe hatte der Alte indessen ins 
Bette gesetzt und ein Kopfkiissen daraufgedeckt, damit sie 
warm bliebe, denn er muBte noch die Karbonade zubereiten 
und zwischenein die Frau frisieren. Das geschah denn auch. 
Er ging ab und zu, von den Haaren der Frau zur Karbonade, 
deckte mitunter auch den Tisch, und in einer Stunde saBen 
unsere neuen Freunde in Friede und Eintracht bei ihrer Scho- 
kolatensuppe, aus gebranntem Mehl zubereitet, und Karbo- 
nade von Hammelfleisch mit Leinol und Knospen von But- 
terblumen statt Kapern. 

Bei sauerm Weine wurde nun der Plan zu einem gemein- 
schaftlichen Konzert bezankt. Die Alte wollte, das Konzert 
sollte auf dem Theater gegeben werden, damit sie ihre despe- 
raten Arien mit volliger Aktion singen konnte. Der Mann 
meinte aber, diese Aktion und besonders seine komische Ak- 
tion wiirde im Saal, wo man's so wenig erwartete und so 
wenig gewohnt ware, weit mehr Effekt tun. 

Gulden war auch sehr furs Theater, denn er glaubte, die 
kleine Figur seines Knabens wiirde sich da weit mehr aus- 
nehmen. Dem wuBte dann aber der alte Italiener gar bald 
abzuhelfen: Man durfte nur den Stuhl auf einen Tisch set- 
zen und den Kleinen auf den Stuhl helfen, so war's im Zim- 
mer so gut und noch in die Augen fallender als auf dem Thea- 
ter; da seine Tochter noch kleiner gewesen, habe sie ebenso 
debutiert. Auch trat die Tochter der Meinung des Vaters bei : 
denn sosehr geubt sie auch in natiirlichen Handlungen war, 
so wenig verstand sie sich auf die kiinstliche Handlung. Und 

69 



es war wirklich zu verwundern, wie sie's, ohne auf dem Thea- 
ter gewesen zu sein, bloB clurch Hiilf e ilirer Eltern so weit in 
den H ++ hauslichen Tugenden gebraclit. 

Der alte Bediente, der eben axis dem Hause geliend auf der 
StraBe zu ruf en anfing : »Koft, wer koft Pulwehr fiir die Ratz, 
fiir die Zahn, fur die Ihnerauk«, wurde zuriickgerufen und 
ihm der Auftrag gegeben, gelegentlich einen Saal zum Kon- 
zert auszufragen. 

Nun wurde die musikalische Besetzung des Konzerts be- 
stritten, und urn so wohlfeil wie moglich davonzukommen, 
wurde beschlossen, zwei Violinen, einen Violoncell, eine Flote, 
eine Hoboe, zwei Waldhorner, eine Trompete und Pauken zu 
bestellen. Die blasenden Instrumente waren der komischen 
Arien des Alten wegen notwendig. Da die Frau und Tochter 
noch durcbaus auf ein Spinett bestanden, urn sich den Ton 
anzugeben, mit dem sie anfangen sollten, so wurde dieses 
nocb zugegeben. 

Nun kam's an die Bekanntmachung des Konzerts und an 
die Verteilung der Billette. Es sollte ein groBer Zettel mit 
roten Bucbstaben abgedruckt und an alien Ecken der StraBen 
angescblagen, audi in alien Hausern durch den fiir die Ratz 
und fiir die Zabn handelnden Bedienten verteilt werden. Der 
alteste Sohn des Wirts, ein lustiger Vogel, der die ganze Ge- 
sellscbaft der Tochter wegen im Hause noch soutenierte, sonst 
hatte sie der Vater langst zum Hause hinausgeworfen, trat 
eben bei dieser Beratschlagung ins Zimmer und mufite sich 
hinsetzen, um nach der Vorschrift aller einen deutschen An- 
schlagzettel zu f abrizieren. Nach sehr haufigen Ausstreichen 
tind Andern stand dann f olgendes A vertissement auf 'm Papier : 

>Mit allergnadigster, allerhochster obrigkeitlichster Bewil- 
ligung wird kiinftigen Sonntag eine beriihmte Gesellschaft 
von groBen Virtuosen, die mit allgemeinem Beifall rund um 
die Welt gereist, in einem groBen, zahlreichen Konzert sich 

70 



offentlich und fiir jedermann horen zu lassen die hohe Ehre 
haben. Sigistoke Picciolo, der seit vielen Jahren als der groBte 
Buffone bekannt ist und die holie Ehre genossen, mit 
Gunst und Gnade von alien hohen Potentaten gekront zu wer- 
den, wird sich in gar possierlichen, lustigen, narrischen, lacher- 
lichen, jedoch insgesamt moralischen Arien in voller Aktion 
horen lassen. 

Sigjntora Picciola, seine Gemahlin, die den grofiten An- 
teil an jener hohen Ehre hat, wird sich in einigen schreck- 
lichen, rasenden, abscheulich tollen Arien, ebenfalls in volli- 
ger Aktion, zu prasentieren die hohe Ehre haben. 

Auchwird dieTochter, die an Schonheit nicht ihresgleichen 
hat und von hohen Potentaten auch nicht unbeehrt verblie- 
ben, in einigen verliebten, sterbenden und wiederauflebenden 
Stiicken die Ehre haben, ein wohlgeneigtes Publikum zu 
amiisieren. 

Endlidi wird ein siebenjahriger Knabe, ein wahres Meer- 
wunder, gar hexenmafiige Tausendkiinsteleien auf der Vio- 
line zeigen. Er wird krahen wie ein Hahn, mauen wie eine 
Katze, schreien wie ein junger Esel, pfeifen w^ie eine Maus, 
und alles auf der Violine. Wer blind ist, wird's nicht gewahr, 
daB es eine Violine ist. 

Die Person zahlet einen Taler; hohe Standespersonen zah- 
len nach Belieben. Und werden wir nicht ermangeln, ein 
hochgeneigtes Publikum aus Leibeskraften zu amiisieren. < 

Nun kam die Verteilung der Billette vor; dariiber wurde, 
nach einigen heftigen Zankereien, mit Kopfstofien unter- 
mischt, endlich f estgesetzt, daB sie sich in zwei Partien teilen 
wollten: Sigjntore Picciolo und seine Tochter eine, die andre 
Gulden und sein Sohn. Jede Partie sollte hundert Billette 
nehmen und so Haus fiir Haus gehen, sich beim Herrn des 
Hauses melden lassen und zugleich ein halb Dutzend Billette 
mit hineinschicken. Gulden sollte mit seinem Sohn seinen 

71 



Weg einen Tag friiher antreten, und den Tag darauf wollte 
SiGNORfi Picciolo mit seiner Tochter denselben Weg nocli 
einmal bereisen, urn den harten Herzen, die bei dem diin- 
nen Gold und Silber auf den Kleidern derer Herren Gulden 
unempfindlich geblieben, durch das starker aufgetragene 
Weifi und Rot auf der Tochter Wangen in Bewegung zu 
setzen. 

Auch machte der Weltkenner Picciolo noch das Gesetz, 
dafi in denFamilien, wo ein alter Mann mit einerjungenFrau 
lebte, sich Gulden bei der Frau des Hauses miisse melden 
lassen, dahingegen in Familien, wo ein junger Mann mit 
einer alten Frau lebte, er sich mit seiner Tochter an den 
Mann wenden wolle. Von beiderseitigen bejahrten Eheleuten 
und Junggesellen und Hagestolzen versprachen sie sich vom 
wiederholten Zuge doppelten Vorteil. 

Nun sollten auch sogleich dieBillette zumKonzert gemacht 
werden. Gulden muBte vierhundert Karten und eine Menge 
Siegellack holen lassen, denn Signobje Picciolo hatte eben 
kein kleines Geld bei der Hand. Drauf setzten sie sich alle 
una einen runden Tisch und fingen an, die Billette zu siegeln. 
Der Sohn des Wirts mufite sie schreiben. Unter allgemeinen 
Geschrei und kraftigen Beistand von alien Seiten brachten 
sie folgende Billettform zustande: >Konzert-Billett fur die 
musikalischen Liebhaber von zwei Damen und zwei Cha- 
teaux. < 

Sobald ein solches Billett geschrieben war, wurd' es sogleich 
gesiegelt und gemeinhin verwischt. Die Halfte davon mufite 
daher weggeworfen werden, die iibrigen w^aren kaum leser- 
lich. Das Siegel war ein stofiender Bock, auf dem Taschen- 
messer des alten Gulden gar groblich eingeschnitten. Auf 
tausendfache Art wurde dieser Bock wahrend des Geschafts 
bewitzelt und beflucht, denn sie verbrennten sich fast alle die 
Finger dran. 
72 



DerEntwurf zum Anschlagezettel wurde sogleich zumBuch- 
drucker geschickt, und den f olgenden Morgen sollte die Wan- 
derung zu Verteilung der Billette angetreten werden. Den 
ersten Gang wollten sie irsr corpore zum Herrn Biirgermei- 
ster tun, um von dem die Erlaubnis zu dem bereits vollig 
angeordneten Konzert zu erhalten. 

Uber alle diese Unterhandlungen, wozu Sigistore Picciolo 
auf Guldens Namen hatte sechs Bouteillen Wein heraufholen 
lassen, war der bestellte Gang zum Abt vergessen. Erst spat 
im Bette dachte Gulden daran und fluchte und schimpfte 
seinen Knaben noch einmal munter, daB' die kanalgesche Be- 
stie, die doch an nichts denken diirfte, nicht daran erinnert 
hatte. Lange schwieg der Knabe. Da es aber kein Ende nahm, 
sagte er dem Vater, er hab' ihn mit Willen nicht daran er- 
innert. Er wurde nie wieder zum Abt hingehen, und wann 
ihn der Vater auch hinpriigeln wollte. 

Es war das erste Mai in seinem Leben, daB er das Herz 
gehabt, dem Vater geradezu zu widersprechen. Meine Leser, 
die mich bisher verstanden und fiihlen und denken konnen, 
werden hier die Ursache davon bald fiihlen. Der Vater, ohne 
sich viel um die Griinde seiner Widersetzlichkeit zu bekiim- 
mern, sprang wie eine Furie zum Bette hinaus und so auf 
des Jungen Bette zu. Er hatte ihn sicher halbtot gepriigelt, 
ware der Junge nicht ebensoschnell wie ein Reh zur Ture hin- 
ausgesprungen. Aber auch das hatt' ihn fur die Wut des Va- 
ters nicht geschiitzt, hatt' er sich nicht unter einen Schrank 
in der Vorstube verkrochen. 

Der Vater war dieses zwar gewahr geworden, konnt' ihm 
aber ohne Gef ahr f iirs Porcelain nicht ankommen. Denn gleich 
beim ersten Schlage, den er nach ihm tat, schlug er an den 
Fui3 des Schranks und notigte dadurch einen alt en Brahmi- 
nen, aus seiner heiligen Ruh' iiber Hals und iiber Kopf her- 
unterzukommen. Alle Drohungen waren vergeblich, den Jun- 

73 



gen da hervorzubringen. Er bestand darauf, der Vater mufit 7 
ihm erst heilig versprechen, ihn nicht zu schlagen, eh. kam' 
er nicht hervor. Da dem Vater itzt nur vorziiglich darum zu 
tun war, denblessiertenBrahminen beiseite zu bringen, so ver- 
sprach er's und beschwor's. Nun muBte der Junge auf zwei 
ubereinandergesetzte Stiihle steigen und den Brahminen, der 
nur einen Arm beim Fall verloren, so stellen, daB man von 
unten den zerschlagenen Arm nicht so leicht bemerkte. Beim 
Herabsteigen ging es denn nicht so ganz ohne RibbenstoBe 
ab, und was der erboste Vater mit Schlagen noch so an sich 
hielt, ersetzte er zehnfach mit Fliichen. 

Den andern Morgen friih erschien der Bediente des Abts 
und forderte den Knaben sogleich zu Seiner Exzellenz. Der 
Vater versicherte, er wiirde sogleich die Gnade haben, aufzu- 
warten. Der Jung' aber bestand darauf, er ginge nicht wieder 
hin, lieB sich derV abpriigeln und ging doch nicht. Da lief 
der Vater hin zu Seiner Exzellenz und entschuldigte seinen 
Knaben aufs beste. 

Vater; Eben, da er voll Lustigkeit, daB er zu Euer Durch- 
laucht sollte, die Treppe uber Hals iiber Kopf hinunterlauft, 
pratsch, liegt er da und kullert so die ganze Treppe von oben 
bis unten herab und schlagt sich ein groB Loch in den Kopf. 

Abt: Seinen Kopf brauch ich eben nicht. 

Voter: Ja, er hat sich auch die Hand verrenkt. 

Abt : Das ist schlimm. 

Vater: Sobald er aber wieder spielen kann, wird er die hohe 
Gnade haben, Euer Durchlaucht untertanigst aufzuwarten. 

Indessen war der alte Gulden unvorsichtig genug, den 
Knaben noch denselben Morgen zum Biirgermeister und zu 
den ubrigen Wanderungen mitzunehmen. Der Abt erfuhr's 
sogleich von seinen Bedienten und nahm's gar hochlich iibel. 
Den Mittag speiseten Hochdieselben bei dem Herrn Biirger- 
meister der Stadt mit dem gesamten Adel und vornehmen 

74 



Biirgerstande axis der Stadt und unterlieBen denn nicht, bei 
Tafel zu erzahlen, wie sie ehegestern einen sehx narrischen 
Auftritt mit herumreisendenMusikanten gehabt, die bei ihrer 
Ankunft einen ganz erstaunenden Larm von einem kl einen 
Jungen gemacht, der aber hernach kaum hatte auf der Violine 
rein greifen konnen. Das Gesindel sei nun hierher gezogen, 
urn ihr Gliick in der Stadt zu versuchen. 

Der Burgermeister wuBte sogleich sehr umstandlich zu 
erzahlen, wie sie heute bei ihm gewesen und urn Erlaubnis zu 
einem offentlichen Konzert angehalten. Da sie ihm so sehr 
angstlich ihre dringende Not geklagt und ihn um Gottes wil- 
len darum gebeten, hab' er ihnen endlich die Erlaubnis ge- 
geben. Je nun, mogen sie ihr Gliick beim Pobel versuchen, 
wir wollen uns denn doch die Nachricht von Euer Exzellenz 
als einem groBen Musikkenner fur uns und unsere Familien 
undBekannte ad intotam nehmen. Die ganze Gesellschaft ver- 
neigte sich und wufite nun, daB sie den nachsten Sonntag 
nicht im Konzert sein wtirde. 

Gulden empfand auch gar bald dieiibelnFolgendieser Ver- 
abredung, er wurde fast bei alien Turen so rund abgewiesen, 
daB ihn die Bedienten gar nicht einmal melden wollten. Jene 

Herren hatten es ihren Weibern gesagt und diese . Die 

Buben auf der StraBe sprachen den nachsten Tag schon davon. 
Andre, die von dieser Verabredung noch nicht so ganz unter- 
richtet waren, trugen groB Bedenken, den lieben Sonntag 
zu solchen Gaukeleien anzuwenden, hatten auch schon ver- 
abredete Kaffee- und Weinkranzchen, oder Spielgesellschaft 
im Garten, oder verabredete Wasserfahrten, Familienspazier- 
fahrten iiber Land und dergleichen. 

Kurz, sie brachten die gauze Woche durch nur sieben Bil- 
lette an, und ihr ganzes Gliick beruhte nun auf die Anschlage- 
zettel. Desto mehr Vorsicht nahmen sie auch gegeneinander 
wegen des nun bei der Tiire bar einzunehmenden Geldes. 

75 



Von seiten des alten Gulden mufite Rothbart und ein Lohn- 
bedienter an der einen Tiire des Konzertsaals stehn. An der 
andern von seiten des Signore Picciolo sein alter Bedienter 
fur die Ratz und fur die Zahn, das alte bucklichte Weib und 
ein andrer Lohnbedienter. Besondre Aufsicht iiber Guldens 
Leute hi elt Sign ore Picciolo und seine Frau und iiber den 
andern Teil der alte Gulden. 

Sie hatten sich wirklich so gut gegeneinander und gegen 
ihre Leute gesichert, daB kein Groschen verlorengehen konnte. 
Es ging auch wirklich kein Groschen verloren, denn zu allem 
Unglxick kam kein einziger Mensch, der an der Tiire bezahlte. 
Das war alien unbegreiflich. In einer grofien Stadt, zur Zeit 
des grofien Markts, an einem geschaftlosen Tage kein einzi- 
ger neugieriger Mensch unter all den wohlhabenden Einwoh- 
nern! Gulden meinte, es sei das diimmste Volk auf der Welt. 
Der Weltkenner Picciolo schiittelte aber den Kopf und die 
rechte Hand naher dem Ohre zu und kratzte sich dann hinter 
dem Ohr, als wollt' er sagen: so dumm eben nicht; waren 
sie dumm, wiirden sie neugieriger sein. Aber auch unter all 
den vielen hundert MiiBiggangern unter den Fremden, mit 
denen alle Wirtshauser besetzt waren, kein einziger, der Neu- 
gierde genug fiir alle die angekiindigten Dinge und einen 
Taler iibrig hatte oder ihn doch auf irgendeine gute Art vom 
Wirt, der Hausmagd oder dem Hausknecht geliehen bekom- 

men konnte ! Das war alien unbegreiflich, bis einer von 

den sieben, die auf Billetts sich einstellten, es sehr naturlich 
damit erklarte, daB auf dem Anschlagzettel kein Datum und 
kein Ort zum Konzert bestimmt sei. 

Nun ging der Katzentanz los. Einer wojlte dem andern in 
die Haare. Jeder wollte sich selbst die Haare ausreiBen. Die 
alte Frau f and den Aufsatz der Tochter schief und riickte ihn 
ihr zurecht, daB die Haarnadeln ihr im Fleische stachen; bald 
safien die Manschetten zu weit vor, und die Mutter schob sie 

76 



zurecht, daB der Arm braun und blau wurde. Gulden ohr- 
feigte seinen Jungen fiir einen Fleck im Kleide, den er vor 
zweiMonathineingemacht, wacker herum. Signore Picgiolo 
sann indessen, mit zusammengebissenen Lippen und halb- 
verschlossenen, in die auBern Winkel scharf zusammengezog- 
nen Augen, auf Mittel, dem "LJbel abzuhelf en. Es blieb nichts 
anders iibrig, als daB er, seine Frau und Tochter, Gulden und 
sein Sohn sich vor die Ture stellten und alien voriibergehen- 
den Pobel, mit Possen und Tranen, mit List und Gewalt, fur 
beliebige Bezahlung, hineinzutreiben suchten. Audi wahrt' es 
keine Stunde, so hatte der auBerst komische Aufzug unsrer 
fiinf Helden eine Menge Menschen in das Haus herein ver- 
sammlet, von denen sich denn doch einige funfzig hatten hin- 
einliigen, hineinliebaugeln, hineinflehen, -zerren und -dran- 
gen lassen. 

Zwar waren nicht viel iiber zehn Taler von all diesen ein- 
gekommen; aber G^Z<i^^meinte,es ware doch besser als nichts, 
und man hatte doch wenigstens nicht die Schande, fiir sieben 
Menschen gespielt zu haben. Dieser Trost wurde noch zur Hin- 
tertiire hinein merklich verstarkt. ImHintergebaude des Hau- 
ses war ein Kaffeehaus fiir beiderlei Geschlecht, welches am 
Sonntage ganz ungemein mit Gasten angefiillt zu sein pflegte. 
Diese Gaste hatten sich bei dem groBen Tumult durch die 
Hintertiir, bei der die Magd des Hauses ohne alles Gerausch 
die Einnahme besorgte, in den leeren Konzertsaal geschli- 
chen. Dadurch war der Saal so voll geworden, daB unsre Hel- 
den aufhoren muBten einzutreiben und sich selbst kaum zum 
Fliigel hindrangen konnten. 

Wie nun alle die Zusammengetriebenen da stehn, groBten- 
teils gar nicht recht begreifen, w^as sie eigentlich da sehen 
werden! Der eine vermutet eine Komodie, der andre ein Ma- 
rionettenspiel, der dritte tanzende Hunde oder seltne Tiere, 
indem er den Knaben von hinten fiir einen verkleideten Aff en 

77 



halt und die Tochter, die in einer Ecke steif am Tische sitzt, 
fur eine redende Seejungfer. Endlicli versammlen sich nach 
und nach die Musikanten wieder, die sicli so verloren in das 
nachste Wirtshaus geschliclien. 

Sigjntoke Picciolo ordnet unterdessen die Pulte — Hiite, an 
Stuhle gebunden — und Tische una den Fliigel herum; reiBt 
den Fliigel, zu dem kein Schliissel da war, mit Gewalt auf; 
irrt eine Weile darauf herum, das a zu finden, wornach die 
iibrigen nun in aller Eil stimmen sollen, zieht dariiber seine 
Frau zu Rate, diese die Tochter, und endlich geben sie b an. 
Darnach stimmen denn die andern nach Vermogen. Nachdem 
sie so eine gute halbe Stunde gestimmt, beruhigen sie sich 
einer den andern, es sei gut. Es stimmten aber wahrlich nicht 
zwei zusammen. Der Hoboeblaser aber sagte mit gravitati- 
scher Gebarjle: »Ja, wenn das so bliebe, sobald die Instru- 
mente aber warm werden, verzieht sich's, und is alles hin.« 

Einer von den Zuhorern aber, der die Stelle dichte hinter 
den Waldhornistenhatte, der mit seinem Waldhorn iiber einen 
halben Ton zu hoch stand, konnte sich nicht enthalten, um 
nicht den ganzen Abend zu leiden, diesem sachte zu sagen: 
»Sie stehn zu hoch.« Worauf dieser aber in der Meinung, 
er benahm' ihm die Aussicht, ganz gelassen antwortete: »Las- 
sen Sie das man gut sein, sobald die Kerls da ihren Hokus- 
pokus anfangen, setz' ich mich nieder.« 

Sigtstore Picciolo lief nun in der groBten Herzensangst 
von einem zum andern, um eine Symphonie zu finden: Es war 
aber keine da. Sie sahen sich deshalb genotigt, mit einer Arie 
anzufangen. Die Alte sollte mit einer desperaten Arie au£- 
treten. Da ihr dieses der kleine Picciolo auf den Zehen ste- 
hend mit der rechten Hand iibern Kopf zuwinkte, schrie sie 
ihm auf italienisch zu, er sollte ihr zwischen den Musikanten 
und den Zuhorern gehorigen Platz machen. Nun wurde alles 
aufmerksam. Der kleine Picciolo preBte die Musikanten, 

78 



soviel er konnte, gegen die Wand, und danri hinkte er mit 
grafilichen Gebarden gegen die Zuhorer hin, die immer nach- 
schoben, und schrie: »Platzen Sie, platzen Sie!« 

Diese verstanden das nicht sogleich, nahmen's fur die erste 
Vorstellung, beklatschten's und waren uber den narrischen 
Kerl, der nun anfing, auf eine gar possierliche Art bose zu 
werden, bald fiir Lachen geplatzt. Er fing aber an, die vorder- 
sten zuriickzudrangen, und rief immerfort: »Platzen Sie, plat- 
zen Sie!« Endlich verstanden sie's, zogen sich allmahlich zu- 
riick und machten der Alten einen ziemlichen Platz. 

Diese kam nun mit ihrem groBen, breiten Fischbeinrock 
angeschifft und neigte sich nach hinten und vorne und nach 
beiden Seiten gar sehr pathetisch. Ihr Anzug bestand aus 
Kleidungsstiicken, die ihr von verschjLedenen sonst gespielten 
Rollen ubriggeblieben waren, als aus der Semiramis^ der Ino, 
der Marzia im Catone und dergleichen. Was sie sang, -war 
eine sehr wiitende Arie aus dem >Orlaistdo Furiosck, die sie 
mit mehr als italienischer Heftigkeit sang und agierte. Ihr 
Mann stand mit dem Notenblatte hinter ihr und soufflierte; 
denn sie muBte beide Hande frei haben, urn in der Luft Bau- 
me zu ergreifen, sie grausam zu zerschiitteln, auszureiBen 
und unter die Zuhorer zu werf en, auch sich nach Gelegenheit 
wiitend fiir die Brust zu schlagen, die Haare auszurauf en usw. 

Die Arie hatte kaum f iinf Minuten gedauert ; demohngeach- 
tet aber war die Alte so abgemattet davon, daB sie SigpsTOKe 
Pigciolo und die alte bucklichte Frau halb fur tot zu einem 
groBen Stuhle hinfiihren muBten. Die Alte hatte in ihrer 
Wut den Fliigel nicht vermiBt, und da sie in der Arie mehr 
zu schreien als zu singen hatte, so wurd' ihr das Intonieren 
eben nicht schwer. Nun aber die Tochter dran sollte, wurde 
SiGisroRJE Pigciolo erst gewahr, daB der Fliigelspieler nicht 
bestellt worden, und ohne Fliigel wrollte die Tochter nicht 
singen. 

79 



Eigentlich glaubte sie wohl, durch diesen Ausweg fur heute 
vom Singen, das so eigentlich ihres Amts nicht war, loszu- 
kommen; all em der listige Vater hatte bald unter den Zu- 
horern einen aufgefunden, der sich zum Akkompagnieren be- 
quemte. Dieser wurde aber so wenig gewahr, daB der Fliigel 
einen halben Ton tiefer stand als die iibrigen Instrumente, 
und spielte tapfer drauflos. Was dem TJbel noch einen guten 
Teil abhalf, war, daB der Fliigel durchaus sehr verstimmt 
war, denn es liatte niemand dran gedacht, ihn stimmen zu 
lassen, und daB also viele Tone zu den iibrigen Instrumenten 
so zufalligerweise akkordierten. 

Was aber weder zum Fliigel noch zu den Instrumenten stim- 
men wollte, war der Gesang der Sigtntora Picciolo. Sie irrte 
lange um den Ton herum, aus dem die Arie ging, und schloB 
die Arie, ohn' ihn gefunden zu haben. Sie hatte aber mit 
starren Blicken aus groBen, weit aufgerissenen Augen, und 
mit niedergeschlagenen Augen, und mit halb umschleierten 
Blicken, und mit verstohlnen Blicken aus dem linken Augen - 
winkel hervor so gut abzuwechseln gewuBt, hatte die rotge- 
farbten Lippen so mannigfaltig lacheln und spielen lassen, 
die Schniirbrust so oft zu eng fur ihren Busen gefunden, daB 
sie am Ende der Arie mit lautem Handeklatschen belohnt 
wurde. Sie verneigte sich tief , die niedergeschlagenen Augen 
auf ihren hervorgepreBten Busen geheftet, und wurde noch 
einmal und noch starker beklatscht. 

Der alte Picciolo vergaB mit einmal die Wut, in die ihn 
Gulden gesetzt hatte, und hiipfte freudig der siegenden Toch- 
ter entgegen. Er raunte ihr sachte ins Ohr, die Hauptabsicht 
des Konzerts sei nun doch erfiillt. Die Mutter meinte aber 
doch, sie erzeigten der Tochter gar zuviel Ehre. 

Gulden hatte wahrend der ganzen Arie der Tochter des 
Picciolo mit diesem einen gar sehr heftigen Rangstreit ge- 
fiihrt. Er sahe die Ehre seines Virtuosen aufs empfindlichste 
80 



dadurch gekrankt, daB dieser erst als der dritte auftreten 
sollte, und gebot dem Knaben, itzt gar nicht zu spielen. Die- 
sem war das Gebot sehr willkommen, denn so wenig er sich 
auch fur die groBe Menge von Zuhorern fiirchtete, so wenig 
war ihm doch itzt spielerlich zumute, da seine Backen noch 
von den Ohrfeigen des Vaters gliihten. 

Pigciolo aber wollte rasend werden, da all sein Bedeuten, 
all sein Zureden, sein Fluchen, sein Aufwiegeln der Zuhorer 
nichts iiber den alten Gulden vermochte. Endlich aber fand 
dieser selbst ein bequemes Mittel, sich zu liberreden. Er tat 
den Vorschlag, daB seinem Knaben die gekrankte Ehre da- 
durch repariert werden miiBte, daB fiir ihn unter den Zuho- 
rern eine besondere Kollekte gesammelt wiirde. Nach lan- 
gen Debatten wurde das zugegeben. Nun wurde der Knabe 
auf denTisch gestellt und spielte sein tausendkiinstliches Solo. 
Kaum stand der Junge auf dem Tische, so wurde er unmaBig 
beklatscht. Dieses verdoppelte sich beim Ende des ersten Alle- 
gros, welches er aber aus Scham fiir seine Stellung und fiir 
das Handeklatschen mit einiger Verlegenheit spielte. Wie er 
aber das Adagio anfing, erstaunten alle und selbst sein Vater 
so, daB sie verstummten. Noch nie hatte er mit so vieler 
Empfindung gespielt. Es klatschte auch wirklich kein einzi- 
ger. Viele blieben starr ihn anblickend stehen. Einige mur- 
melten sich sachte in die Ohren. Wohl mancher wischte sich 
die Tranen ab. Er hatte wirklich alle bis auf den gemeinsten 
Pobel geriihrt. 

Gulden begriff's nicht. Aber der alte Pigciolo fiihlte den 
Grund. Er hatte bemerkt, daB der Knabe im ersten Allegro 
die zehnjahrige Tochter ihres Wirts einigemal anblickte und 
jedesmal fiir Scham iiber und iiber rot wurde. Beim Anfange 
des Adagios hatte er nur mit halbem Blick hingesehn, ob sie 
noch da sei, und dann nicht mehr hingesehen, als da es zu 
Ende war, alsdann sie aber auch ganz offen angeblickt und, 

81 



da er Tranen in ihren Augen sah und sie beschamt nieder- 
blickte, selig auf ihrem Gesichte verweilt. 

Nun spielte er die letzte Menuett mit Variationen, worm 
das ganze Paradies redend eingefuhrt war, aber mit weniger 
Lebhaftigkeit und Gaukelei, als er's wohl sonst schon gespielt 
hatte. Das Bravoruf en und Handeklatschen nahm kein Ende, 
bis der alte Gulden mit dem Hute des Knaben die Einsamm- 
lung begann. Die meisten gaben recht gerne ihr Scherflein 
dazu. Nur die, die kein Geld hatten, fanden's impertinent, 
druckten die leeren Finger tief in den Hut und machten groB 
Aufhebens iiber die Geldschneiderei. Wohl iiberzahlt kam 
noch fur den Knaben sechs Taler sects Groschen zusammen. 

Nun erschien Signore Picciolo in einer komischen Ak- 
tionsarie. Wahrend des Solos hatte er seinen Anzug verandert. 
Er erschien in einer Kleidung, in der er auf den groBten 
Theatern in der Welt den Dokter Pandolfo gespielt haben 
wollte. Eine weifie, hoch aufgekrauselte Periicke von Ziegen- 
haaren bedeckte seine Stirne, Ohren und den groBten Teil der 
Backen. Hinten war sie mit einem seidenen rosenroten Bande 
hoch aufgebunden. Ein kurzer Rock mit hoher Taille und stei- 
fen SchoBen, mit Goldpapier statt Tressen auf alien Nahten 
besetzt und groBen Aufschlagen von bemaltem Blech statt 
Silberstoff, stand ihm steif von dem Nacken bis an die Knie- 
kehle eine halbe Spanne um den Leib herum. Die lange, fast 
bis an die Knie reichende Weste und engen, uberm Knie 
sich schlieBende Hosen w^aren von Loschpapier, besetzt mit 
einem kompletten Spiel Karten. Sehr witzig waren die Ko- 
nige und Damen und Buben, jeder nach seiner besondern 
Spielfahigkeit, placiert. Coeur- As stand auf dem Herzen. Da- 
zu hatte er rote Strumpf e mit goldenen Zwickeln und Schuhe 
mit hohen roten Absatzen. Noch einen sehr groBen Hut, mit 
einer starken roten Feder besetzt, untermxArm und einen kl ei- 
nen porcelainenen Degen zwischen den Waden schlenkernd. 

82 



So stiirzte er voller Wut aus dem nahheranstoBenden Kaf - 
feezimmer heraus, und unterdessen das Ritornell ziemlich 
lange fortdauerte, agierte er mit ganz abscheulicher Wut auf 
die Tiire zu, bis endlich am Ende des Ritornells aii einem 
kleinen Gitterfenster uber der Tiire des Kaffeezimmers seine 
Schone erschien. Diese war niemand anders als das alte buck- 
lichte Weib in einem griinen Tiroler Sonnenhut; da zer- 
schmolz seine abscheuliche Wut in noch abscheulicherer Zart- 
lichkeit, und er malte seiner Schonen das machtige Klopfen 
seines Herzens. Es ging tippe tappe, tippe tappe, tippe tuppe, 
tippe tappe, tippe tuppe, tippe tappe — ■ 

Dieses waren die Worte zur ganzen Arie, die fast eine 
Viertelstunde dauerte. Wohl einige tausendmal wurden diese 
Worte wiederholt, und der Kerl pfiff und sang und schrie und 
briillte alle Tone in der Natur durch. Im Anfange war es das 
Pfeifen der kleinsten Maus, und so durch alle Grade durch, 
daB es am Schlusse das heftigste Briillen eines briinstigen 
Stiers wurde. Er war auch so ganz in seinem Himmel, daB er 
lange noch fortschrie, da die Musikanten schon fiir baucher- 
schiitterndes Lachen zu spielen aufgehort hatten. 

Was im Anfange seine zartliche Wut noch komischer 
machte, war, daB sich die groBen starken Kerls von ihren No- 
tenpulten immer zu ihm hindrangten und ihn umzingelten, 
um den kleinen, zetergewaltschreienden Kerl ins Gesicht zu 
sehen. Wobei er dann unablassig hinten und vorne und zu 
alien Seiten ausschlug, um sich Platz zu machen, und zwi- 
schenein immer schrie: »Platzen Sie, platzen Sie, tippe tuppe, 
tippe tappe, platzen Sie, tippe tuppe, platzen Sie, platzen 

Sie — « 

Nun sollte nach dem Gange der Arie der Sohn des Dokters 
aus dem Hause seiner Schonen erscheinen, damit der Vater 
wieder in seine erste Wut geraten und sich der Akt mit einem 
bravourvollen Duett endigen konnte. Der Sohn hatte aber Te- 

83 



nor zu singen, und dazu wollte sicli keiner in der Stadt finden 
lassen. Der Alte, der gerne jede Gelegenheit nutzte, seine 
Aufzuge immer komischer zu machen, hatte einen jungen 
Menschen von der Musikantenbande, der das Fagott blies, 
dahin beredet, die Singepartie des Sohns au£ dem Fagott zu 
blasen, und stellte ihm sein Pult unter das Fenster seiner 
Schonen. Wie dieser nun in der Unschuld seines Herzens die 
Partie des Sohns zu blasen anfangt, geht Picciolo mit Tiger - 
wut au£ ihn los und zerarbeitet sich gar grimmig gegen den 
Fagott. Der junge Mensch war fur Schreck fast in die Knien 
gesunken und spielte daher, ohn es zu wissen, desto natiir- 
licher die Rolle des ersehrocknen betroffnen Sohnes. 

Der groBte Teil der Zuhorer war mit dieser Vorstellung 
ganz vorziiglich zufrieden und lieBen ihren sehr lauten Bei- 
£all erschallen. Der eine schrie wahrend dem Klatschen: »Das 
is 'n verfluchter Kerl«, der andre: »Potz Geek und kein 
Ende« J noch ein andrer : »Der Kerl hat den Teufel im Leibe.« 
Gegen all die Lobeserhebungen verneigte sicb. Picciolo mit 
unbeschreiblicher Selbstgef alligkeit und Behaglichkeit. 

Die denn aber unter den Zuhorern nur einigermaBen Oh- 
ren hatten, waren, ohnerachtet sie iiber den narrschen Kerl 
im Anfange herzlich lachen muBten, gar sehr froh, daB das 
Blitzhagelzetergeschrei einmal ein Ende hatte. Unter diesen 
war auch ein Mann, der sich an solchen Possen in seinem Le- 
ben schon satt gesehen und satt gelacht hatte, hier also unge- 
riihrt geblieben; der auch ubrigens die Eigenschaft hatte, daB 
er, wenn er einmal sein Stiick Geld wozu anlegte, schlechter- 
dings in nichts anders Vergniigen finden konnte als gerade 
daran, wozu er das Stiick Geld angelegt. Dieser hatte von An- 
fang des Konzerts an eine sehr unzufriedene Miene gemacht 
und wahrend der Arie des Picciolo sein groBes MiBfallen 
gar deutlich bezeugt. Demohngeachtet rief er am Ende der 
Arie ganz allein sehr ernsthaft: »Da capo!« 
84 



Die ubrigen, die ihn kannten, wunderten sich, argerten 
sich auch, daB sie das Geschrei noch einmal horen sollten. In- 
dessen nahm Signore Piggiolo, so atemlos und wassernaB er 
auch war, die Einladung rait groBen, bockspringigen Biick- 
lingen auf und hub seine Arie von neuem an. Auch nicht 
ganz unvorbereitet; denn nun fing er beim Briillen des briin- 
stigen Stiers an und horte mit dem Pf eif en der Maus auf. Er 
war aber schon zu sehr entkraftet, als daB er das Herz seiner 
vorher gefiihrten, erschiitterten Zuhorer abermals mit Sturm 
hatte einnehmen konnen. Auch wollte sich der junge Mensch 
nicht mehr zur Partie des Sohnes bequemen, und der keu- 
chend wutende Alte ergriff mit Freuden diese Gelegenheit, 
sein Leben zu retten, und brach da, wo das Duett einfallen 
sollte, wohlbedachtig ab. 

Das erregte nun unter den vorher lautgewordenen Zuho- 
rern groBes MiBfallen, und er blieb vollig unbeklatscht. Die 
ubrigen waren froh, daB es zu Ende war. Indem ruft derselbe 
ernsthafte Mann noch einmal: »Da capo!« Piggiolo, der 
kaum mehr auf den Beinen stehen kann, vermag nicht die 
hohe Ehre von sich abzuweisen und riistet sich schon, zum 
dritten Male anzufangen. Da sich aber die ubrigen Zuhorer 
alle dawider emporen und alle mit Verwunderung und Ver- 
druB nach dem aufgericht stehenden Mann hinsehen, sagt 7 
er ganz kalt: »Ich dachte, die Bestie sollte krepieren.« Wie 
nun dem kleinen Kerl alle mit Gewalt in die Hohe getriebe- 
nen Muskeln sanken! wie er tief in den Boden blickend da- 
vonschlich! — 

Nach der vorherbestimmten Ordnung sollten nun die Frau 
und Tochter ein Duett singen; allein sie waren beide in sol- 
chem entsetzlichen Husten begriff en, daB sie in Gefahr wa- 
ren, zu ersticken. Es hatten namlich alle die Herren, die sich 
aus dem Kaffeehause zur Hintertiire hineingeschlichen, sich 
so sachte ihre Pfeifen und Bierglaser zum Fenster hinein- 

85 



reichen lassen, sich da im Hintergrunde des Saals mit ihren 
Schonen niedergelassen und trieben da ihr Wesen. Da die 
Herren nun aber allesamt keine kalte Pfeifen rauchten, so 
entstand sehr bald ein solcher greulicher Dampf im Saale, 
daB alles in einem dicken Nebel gehiillt war. Dieses war nun 
der entkrafteten Alten, die mit starken Ziigen nach Luft 
schnappte, gar sehr auf die Brust gefallen, ebenso der eng- 
schnurbriistigen Tochter. 

Signore Pigciolo eilt in der grofiten Angst seines Her- 
zens zum Saal hinaus, um den alten Bedienten fur die Ratz 
und fur die Zahn zur Hiilfe zu rufen, findet diesen aber von 
einer groBen Menge Menschen umringt, wie er eben im Be- 
griff ist, einem Polen den Zahn auszuziehn. Er hatte hier im 
Vorhause wahrend des Konzerts sein Theater aufgeschlagen, 
und dies war schon der siebente Zahn, den er morderlich an- 
packte. Es hielt mit diesem schwer, und er konnte also auf 
alles Zuschreien des Signore Pigciolo, der sich mit seinem 
»Platzen Sie, platzen Sie« nicht durchdrangen konnte, nicht 
viel geben. Bis denn endlich der zweite Angriff gelingt und 
der Kerl zwei Zahne fur einen herausbringt. Da stehen sie 
nun beide in groBer Verlegenheit gegeneinander. Der Zahn- 
brecher in Angst fur Priigel, der Pole in Furcht, der Kerl 
wurde nun fur zwei Zahne Bezahlung fordern, da er doch 
nur fur einen Geld bei sich hatte. 

Unterdessen hatte des Pigciolo unbandiges Geschrei die 
meisten Zuhorer aus dem Saal ins Vorhaus gelockt, und das 
Konzert verlor sich so in sich selbst. Einige junge Herren wa- 
ren zuriickgeblieben, um der leidenden Schonen hulfreiche 
Hand zu leisten, und verlor en sich in Werken der Liebe zum 
Nachsten. 

Gulden hatte sich sogleich beim Ende der Arie mit den 
ubrigen Musikanten in die Biervorratskammer zurxickgezo- 
gen, fiir deren Anfiillung Rothbart den ganzen Tag vorher 

86 



treulich gesorgt hatte. Itzt machte er den Mundschenk und 
trank den Gasten mit Prost zu. 

Unser Knabe und sein kleines liebes Madchen, die solange 
Hand in Hand stumm nebeneinander gesessen hatten, waren 
urn die in Ohnmacht gesunkene Alte beschaftigt und schniir- 
ten ihr in der Unschuld ihres Herzens die Schniirbrust auf . 
Dabei kam ihnen einer von den jungen Leuten, der sich nicht 
hatte vor die andern bis zur Demoiselle hindrangen konnen, 
zu Hiilfe. 

So fand es Signore Picciolo, da er mit seinem Arzt fur 
die Ratz und fiir die Zahn ankam, welcher denn auch die 
Darniederliegenden mit einem GuB kalten Wassers ins Ge- 
sicht gar bald aus ihrer Ohnmacht weckte. Signore Picgiolo 
war sehr dankbar gegen die menschenfreundlichen jungen 
Herren und notigte sie den Abend in sein Logis. Viere von 
den Herren nahmen die Einladung an und begleiteten die 
Damen. 

Gulden war schwer von den Bouteillen wegzubringen. Da 
indessen der alte Picgiolo versicherte, er habe ein f eines Sou- 
per veranstaltet, lieB er sich bewegen mitzugehen. 

Unser Knabe fiihrte sein kleines liebes Madchen bei der 
Hand. Es war wurklich ein liebes blondes blauaugigtes Mad- 
chen, die, in aller Unschuld und Einf alt erzogen, nichts wuBte 
als ihren Katechism, stricken, mit der Nadel sticken und Blu- 
men pflanzen. Da sie nach Hause kamen, gingen sie beide in 
den Garten der Kleinen. Der Vater hatte ihr einen kleinen 
Teil seines Gartens zum Blumenpflanzen eingeraumt, und 
da pflegte sie sich die Blumen, die sie gerne sticken wollte, so 
zu pflanzen und sie, wenn sie aufgebluht waren, hubsch bunt 
durcheinander in einen StrauB zu binden, den dann so zum 
Vorbilde auf ihren kleinen Rahmen zu legen und darnach zu 
sticken. 

So gerne sie auch auf'm Hofe oder iibrigen Garten mit 

87 



andern^Kindern und besonders mit kleinen Knaben spielte, 
so ungern und selten nahih sie sie docli mit in ihren kleinen 
Garten. Sie wollten denn da man immer so die Blumen ha- 
ben, rissen sie oft ab, eh sie reclrt aufgebliiht waren, und 
dann hatten sie sie nicht einmal so recht lieb. Nein, nein, so 
gerne sie auch ihre auf Leinewand gestickte Blumen ver- 
schenkte, so ungern gab sie eine Blume vom Stocke; sie ver- 
taus elite vielmehr sehr oft mit andern Kindern ihr Fruhstiick 
oder Vesperbrot gegen Blumen. 

Sonderbar war's aber, wie sie unsern kleinen Heinrich so- 
gleich den ersten Abend in ihren kleinen Garten fiihrte, ihm 
all ihre Blumen zeigte und, wie sie lang umsonst gewiinscht 
hatte, daB Heinrich sie um Blumen bitten mochte, dieser aber 
immer so furchtsam bescheiden tat, immer uber die Blumen 
hinsah, wenn sie ihn freundlich anblickte, wie sie ihm da 
einen allerliebsten StrauB von den besten Blumen pfliickte 
und ihn, nachdem sie sie lange unentschlossen in der kleinen 
Hand getragen, um seinen Hut bat, er miiBte aber auch nicht 
hinsehn, und sie ihm an den Hut steckte, und wie er xiber und 
uber rot wurde und zitterte, da sie ihm den Hut aufsetzte. 

Ihr war's, als wenn sie weinen und lachen sollte. Auch 
fand sie den Abend zum ersten Male, daB sie ihre kleinen 
FuBsteige zwischen den Blumenbeeten viel zu schmal ge- 
macht hatte; denn Heinrich muBte immer hinter ihr her 
gehn, und sie hatt' ihn doch so gerne zur Seite gehabt. 

Es war kurz vor Untergang der Sonne, da Friederike un- 
sern Heinrich zum ersten Male in ihren Garten fiihrte. Mit 
der untergehenden Sonne stieg der voile f eurige Mond in die 
Hohe. Die Kleinen, die nur sich und den Blumen lebten, hat- 
ten weder das Untergehen der Sonne noch das Aufsteigen des 
Mondes bemerkt, bis endlich Friederike in ihrer eitlen Ge- 
schaftigkeit, mit der sie um den Heinrich herumsprang, bald 
hier ein verdorrtes Blatt abriB, bald dort einen Blumenstock 
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in die Hohe richtete und ihn befestigte, bald mit ihren klei- 
nen Fingern die Erde unter den Blumen aufwiihlte, ob sie 
auch zu trocken sei, und dabei Heinrichen f est und heilig ver- 
sicherte, man konnte gar nicht vorsichtig genug mit den Blu- 
men umgehn, eh man sich's versahe, hatten sie einen Pips weg 

bis sie, wie sie so recht keck einen durren Zweig abreiBen 

will, eine ganze Blumenstaude samt ihrer Wurzel ausriB, 
und 

Friederike (das Gesicht mit den kleinen Handen bedeckt, 
den Kopf herabgeneigt, dann die Hande, von den fiir Scham 
gliihenden Backen herabgleitend, tief gefaltet und hinauf an 
den Himmel blickend): Ach ich dummes, dummes Madchen! 
(Sie erblickt den noch feuriggliihenden Mond.) Aber mein 
Gott, sehn Sie doch nur, lieber Musje Gulden, die Sonne steht 
ja jetzt holier als erst, da wir in den Garten kamen. 

Heinrich: I je! — Aber es mag wohl nicht die Sonne sein. — 
Doch aber der Mond kann's ja auch ohnmoglich sein, das ist 
viel zu rot. 

Friederike: Nein, der Mond kann's ohnmoglich sein, denn 
bei Mondschein geh' ich niemals in den Garten. 

Heinrich: Nee, nee, es ist die Sonne. 

Friederike: Sehn Sie nur, lieber Musje Gulden, das hat mir 
mein Papa verboten, bei Mondschein soil ich kein einziges 
Mai in den Garten gehn. Ach, und ich ginge zuweilen so 
gerne! Aber er hat's verboten — 

Heinrich: I mein Gott, warum denn? 

Friederike: Ja, das weifi ich nicht, das hat er mir nicht ge- 
sagt; er sagte wohl einmal was von Erkalten, aber das kann's 
wohl nicht sein, denn ich sitze ja oft mit ihm und der Mama 
bis zehn Uhr vor der Tiire, da unter dem grofien Kastanien- 
baum, wo die Bank daruntersteht. Mein jiingster Bruder und 
die jiingste Schwester sind denn schon lange zu Bette, aber ich 
geh nur erst, o das ist wohl schon — wohl schon fast ein gan- 

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zes Jahr, daB ich erst zu Bette gehe, wenn Mama und Papa 
geht. Nur in den Garten- darf ich des Abends nicht gehen. 
Papa sagte auch wohl einmal was von ehrlichen Madchen, 
aber das hab' ich ihm nicht recht verstanden. I nun, er mufi 
doch so seine Ursachen haben, denn das glauben Sie mir nur, 
mein Papa hat mich recht lieb, er tut mir auch recht viel zu 
Gefallen, das kann ich nicht anders sagen. 

Heinrich: Hat er Ihnen denn den Garten geschenkt? Krie- 
gen Sie alle Blumen zu behalten? 

Friederike: O ja, ich kann mit machen, was ich "will, und 
da hat sich keiner was drum zu bekiimmern, daB ich Ihnen 
einen StrauB gegeben. Nein, das muB wahr sein, mein Papa 
tut mir recht viel zu Gefallen; ich miiBte liigen, wenn ich das 
anders sagte; aber wenn ich denn auch einmal ungehorsam 
bin, denn ist er auch sehr scharf % ach, sehr scharf . 

Heinrich (sie angstlich mit beiden Handen beim Arm er- 
greif end und sachte f ortschiebend) : Ach, denn gehn Sie doch 
nur lieber gleich herein, auf alien Fall, daB es der Mond ware. 

Friederike (die des Heinrichs sonst so freies, offnes Ge- 
sicht mit einmal so angstlich verzogen sieht, blickt ihn mit 
fragenden Augen und halbgeoffneten Lippen an, wird blaB 
und weiB nicht, ob sie gehn oder bleiben soil). 

Der Voter (am Fenster mit der vorgesteckten Serviette, 
laut) : Friederike! 

Friederike (sich zusammennehmend) : Gleich, liebes Papa- 
chen. Ich will nur einen gelben Veilchenstock noch anbin- 
den. 

Heinrich (mit angstlicher Stimme sie treibend) : Ach las- 
sen Sie das doch nur, kommen Sie doch nur, liebste 

Friederike: Nun gut, ich will das lieber auf morgen friih 
lassen. (Forteilend) Ich will morgen recht friih, recht friih in 
den Garten gehn. Sieschlafen aber wohl lange? 

Heinrich : Ja O nein 

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Und nun war Friederike in der Stube, und Heinrich horchte 
an der Tiire und sah durchs Schliisselloch, ob sie auch un- 
freundlich empfangen wiirde. Der Vater hatte aber ihr un- 
schuldiges Gesprach am Fenster mit angehort und lieB es bei 
einer gelinden Ermahnung bewenden. Heinrich ging nun 
langsam die Treppe hinan und vergaB, die zweite Stufe im- 
mer, wie gewohnlich, zu iiberspringen. 

Beim Schlaf engehen nahm er sich fest vor, den f olgenden 
Morgen urn funf Uhr aufzusteben und in den Garten zu ge- 
hen. Dariiber konnt' er gar nicht einschlafen bis endlicb ge- 
gen Morgen, da iiberfiel ihn der Schlaf, und er schlief bis 
sieben. Da sprang er, bos au£ sich selbst, schnell aus dem Bette, 
zog sich, fur Unwillen weinend, ganz still an und schlich 
sachte zur Tiir hinaus und nun heidi in den Garten. 

Friederike war schon bald eine Stunde im Garten und war 
all Augenblick an die Gartentiire gelaufen, zu sehen, ob er 
noch nicht kame. Da er kam, war sie eben von der Tiire weg 
in den Garten gegangen. Nachdem Heinrich eine Weile un- 
entschlossen an der Gartentiire gestanden, trat er, ihr so ganz 
unerwartet, in die Tiire. Sie war eben wieder im Begriff , an 
die Tiire zu laufen, lauft auf ihn zu und fallt ihn recht freu- 
dig um den Hals. Kaum hatte sie aber mit ihren Lippen ihn 
beriihrt, als sie schnell zuriickflog, ihr gliihendes Gesicht mit 
der kleinen Schiirze bedeckte und beschamt mit halber Stimme 
sagte : » Ach mein Gott, ich dacht' wohl gar, es war mein jiing- 
ster Bruder.« 

Heinrich (mit zitternder Stimme): I das hat ja nichts zu 
sagen — I das kommt ja wohl. 

Ich halte mich f iir einen Teil meiner Leser vielleicht schon 
zu lange bei diesen mir so lieben unschuldigen Szenen auf, ich 
will deshalb nur noch sagen, dafi den beiden lieben Kindern 
seit der Zeit immer herzlich bange war, wenn sie nicht bei- 
sammen sein konnten. Friederike suchte sich denn immer, so- 

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viel sie konnte, von ihren Geschwistern und Gespielinnen los- 
zumacKen, und muBte sie unter ihnen sein, so pflegte sie ganz 
ausgelassen viel zu lachen; denn weinen wollte sie doch nicht 
gerne vbx denAugen der andern. Ihren jtingsten,aclitjalirigen 
Bruder gewann sie nun besonders lieb und nahm ihn sehr oft, 
wenn Heinrich nicht da war, mit sich in den Garten, und 
dann herzte und kiifite sie ihn so viel und besehenkte ihn mit 
Blumen, daB der seines Bleibens nicht wufite. Heinrich aber, 
der am Tage die meiste Zeit oben in der verschlossenen Kam- 
mer, die leider nicht nach dem Garten ging, die Geige iiben 
mufite, kam immer von dem vor sich habenden Stiick ab und 
fiel so in eigene Phantasien, die gemeinhin in den traurigsten 
Molltonen herumirrten. 

Konnten sie aber nur irgend von ihren Eltern sich losbitten 
oder sich davonschleichen, so waren sie zusammen im Garten. 
Und dann war ihnen so wohl. Heinrich leistete seiner lieben 
Kleinen in ihrer Vorsorge fur die Blumen fleiBig hiilfreiche 
Hand. Er trug ihr das Wasser herbei; er machte ihr das kleine 
Zuschlagemesser, womit sie die Blumen zu beschneiden 
pflegte, auf und zu; er richtete sie sehr besorgt und sehr ge- 
schwind auf, wenn sie beim Knien vor den Blumen niederfiel, 
und putzte ihr den Staub von den Kleidern 

Auch trieben sie miteinander allerlei unschuldige, kin- 
dische Spiele und waxen dann so seelenvergniigt dabei, daB 
sie oft Essen und Trinken druber vergaBen. Wenn sie dann 
so vom Ballspiel oder Wettlauf en oder Kreisel- und Tonnen- 
bandschlagen sehr erhitzt waren, dann f achelte einer den an- 
dern mit seinem Tuche ktihl. Bisweilen nahm wohl auch Frie- 
derike ihre kleine Schiirze dazu, die reichte dann aber nicht 
recht in die Hohe, und da muBte Heinrich ins Gras nieder- 
knien. Wie sie dann schon bekannter miteinander waren, sich 
schon Schwester und Bruder nannten — es geschah so ziemlich 
in den ersten Tagen — , da zog dann wohl Heinrich seine kleine 
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Schwester zu sich ins Gras, und sie riB dann Grashalme aus 
und bewarf ihn damit, und er - tat dasselbe, bis sie wieder 
ganz erhitzt waren. 

Obgleich sie. nun nicht die geringsten Heimlichkeiten bei 
ihren Spielen hatten, so war ihnen doch ihr ganzes Vergnii- 
gen verstort, sobald sich. andre Kinder dreinmischten, und ge- 
meinhin priigelte sich dann Heinrich mit alien Jungens her- 
um, und Friederike weinte sich oft bei solchen gemischten 
Spielen die Augen ganz rot, daB Heinrich ihr dann, eh sie 
hineingingen, die Augen behauchen muBte, damit sich die 
Rote verlor. 

Mit Gewalt reiB' ich mich vom Bilde der Unschuld los, una 
die Geschichte des Konzertabends zu verfolgen. Es war acht 
Uhr, da Gulden mit dem Signore Picciolo, dessen Familie 
und Gasten, zu denen noch die Tochter zwei haBliche Mad- 
chen von ihrer Bekanntschaft eingeladen, in das Zimmer des 
Signore Picciolo ankam. Da dieser erst die Tauben, die den 
Abend verzehrt werden sollten, selbst braten muBte, so schlug 
die Tochter zu Ausfiillung der Zwischenzeit ein kleines Pha- 
raospiel vor. Die jungen Herren sogen das zuckersiiBe La- 
cheln von ihren zinnoberroten Lippen und die wohlverteilten 
Seitenblicke aus ihren spielenden Augen begierig ein und 
spielten schon im Geiste. 

Die Mutter lieB sich vom alten Gulden fiinf Taler kleine 
Miinze geben, den Friedrichsdor dafiir wollte sie hernach aus 
dem Schrank holen, und machte die Bank. Da ihr selbst das 
Abziehen zu beschwerlich wurde, so muBte der alte Bediente 
fur die Ratz und fur die Zahn, der auch fur die Narr ausge- 
lernt war, das Geschaft iiber sich nehmen. Die Alte mischte 
die Karten. Der geringste Einsatz gegen diese Bank von fiinf 
Talern sollte ein halber Gulden sein. 

Die hochst unerfahrnen jungen Leute merkten nicht ein- 
mal auf die alten klebrichen Karten, mit denen abgezogen 

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wurde, viel weniger au£ die f einen Betrugskiinste und besetz- 
ten ihre Karten, die ihnen die junge Signora in groBer 
Menge aus ihrem Buche herauszog, gar fleiBig. Ihr Spiel war 
bald geteilt in Karten, die sie fur die Damen und vorziiglich 
fur Sigistora Piggiolo besetzten, und in andere fur sich. Die 
Herren hatten auch eine so gliickliche Hand, daB die Karten, 
die sie fur die Damen besetzten, immer gewannen, wahrend- 
dessen die ihrigen flogen, als waren sie mit Quecksilber ge- 
fiillt. Was sie aber auch wieder an f einen und groben Gunst- 
bezeugungen gewannen! Die ganze junge Signora war von 
der FuBspitze bis zur hangenden Locke am Halse fur sie in 
Bewegung. 

Gulden hatte anf anglich nur zugesehn, aber bald gefiel ihm 
das Spiel so gut, daB er rief : »He, frisch gewagt is halb ge- 
ivonnen!« und einen harten Taler auf die Dame setzte, die 
ihm die alte Signora mit liebegrinzenden Augen hinreichte. 
Und siehe, Gulden gewinnt seinen Taler. Die Alte beredet 
ihn zum Paroli, aber Gulden meint : »Ein Haben is besser als 
zehn Kriegen«, und laBt sich seinen Taler bezahlen. Besetzt 
aber den Buben von neuem, mit einein harten Taler, und ge- 
winnt den auch. Nun sieht er, daB das Spiel ihm wohlwill, 
nimmt einen Stuhl und spielt ordentlich mit, und um die 
gliickliche Stund recht zu nutzen, setzt er einen Friedrichsdor 
auf die Dame, die wahrend, daB er sie unbesetzt li^B, zwei- 
mal auf die rechte Hand gef alien, nur noch einmal drinnen ist 
und auf heimliche Eingebung der jungen Sigistora von alien 
eifrigst besetzt wird. Aber die verliert und bringt der Bank 
iiber drei Friedrichsdor, denn die jungen Herren hatten ihr 
Spiel auch schon lange doubliert. 

Nun ging's, wie es mit unerfahrnen Spielern bei Hasard- 
spielen immer zu gehen pflegt, von alien Seiten hitziger. Gul- 
den verlor immer mehr und mehr und fluchte dabei alle Teu- 
fel und alle Heiligen zusammen. Einmal gewann er und 

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zehnmal verlor er. Wie er schon gegen zwolf Friedrichsdor 
verloren hatte, schrie er nach seinem Heinrich, der schon bald 
eine Stunde, da er seine liebe Friederike hatte verlassen miis- 
sen, hinter des Vaters Stuhl stand und mit groBer Begierde 
dem Spiele zusah. Gulden rief ihn, um zu versuchen, ob der 
Knabe eine gliicklichere Hand hatte. Dieser muBte daher die 
Karten fur den Vater ziehen und selbst welche mit einem hal- 
ben Gulden besetzen. 

Die alte Signora, die den Gulden fur die Zukunft noch 
aufsparen wollte, hielt es fur das beste Mittel, ihn einiger- 
mafien zu besanftigen, daB sie den Jungen einige Taler ge- 
winnen lieB. Da sie aber merkte, daB die jungen Herren schon 
heimlich voneinander Geld liehen und daB sie alle nicht mehr 
recht eifrig besetzten, lieB sie dem alten Picciolo wissen, daB 
seine Tauben nun f ertig sein konnten, sie war mit den Scha- 
fen schon f ertig. Signore Picciolo gab ihr seine Herzens- 
freude daruber durch ein lautes Hahnenkrahen zu erkennen 
und kam, da Heinrich zur grofien Freude seines Vaters eben 
im besten Gewinn war, den Tisch, worauf sie spielten, zu dek- 
ken. Die Alte wies ihn zornig ab : Ob er nicht wiiBte, daB das 
von den Herren dependierte, die im Verlust waren. Die Her- 
ren hatten aber ihrer leeren Taschen und gespitzten Mauler 
wegen schon langst das Ende des Spiels gewiinscht, und Gul- 
dens feurige Protestation wider 's Essen half also nichts. Es 
wurde gedeckt und gegessen. Beim Essen sprach die junge 
Sigjntora von Champagner und ungarischen Wein, die Alte 
meinte aber, Cardinal ware jetzt besser, dahingegen Picciolo 
behauptete, man miiBte in dieser Jahreszeit nichts als Selzer- 
wasser mit Rheinwein trinken. Wahrend dieser Rede schlich 
sich einer von den jungen Herren hinaus, die andern wink- 
ten ihm zu und bestellten unten beim Wirt fur ihre Rech- 
nung Champagner, ungarischen Wein, Cardinal, Selzerwas- 
ser und Rheinwein hinaufzubringen. Daruber war nun Pic- 

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ciolo und seine ganze Familie iiber alle MaBen beschamt 
und bfetroffen, auch konnten sie gar nicht so recht herzhaft 
von den schonen Weinen eingieBen, und es blieb wohl iiber 
die Halfte stehen. Wurde wohl aufgehoben. 

Gulden und die alte Signora batten's sicb allein recht gut 
schmecken lassen; und da der eine voll Wut, die andre voll 
grofier Freude ans Werk gegangen, so waren sie beide sehr 
bald himmeldick besoffen. Gulden lieB seine Wut in ganz des- 
peraten Karessen an die Alte aus. Die Alte lieB sich aber nicht 
grausam finden. Bald waren sie ganz miteinander beschaftigt. 

Der alte Picciolo, nachdem er seiner Tochter die Klug- 
heit eingescharft, gegen die freigebigen jungen Herren ja 
hochst sparsam mit ihren Gunstbezeugungen zu sein, setzte 
sich hinter den Of en und schlief ein. 

Die Tochter, die selbst wohl einsah, wie sehr ihr dauernder 
Vorteil davon abhing, daB die jungen Herren ungesattigt 
blieben, suchte die iibrige Gesellschaft immer soviel moglieh 
zu vermischen und schlug endlich Pfanderspiele vor. Unser 
Heinrich wurde auf Verlangen eines der haBlichen Madchen 
mit dazugezogen. Dies e war von den jungen Herren den 
Abend iiber gar zu sehr zuriickgesetzt worden, und deshalb 
hatte sie zu etwanigen Ersatz den kleinen Heinrich in Affek- 
tion genommen und lehrte ihm bei Tische, da das Kiissen die 
Reihe herumging, wie er recht zierlich und zartlich kiissen 
miiBte 

Sooft ich an dergleichen Szenen komme, die unserm lieben 
Knaben seine gliickliche Unschuld immer mehr und mehr 
rauben und so den Samen zu seinem kiinftigen Ungliick 
streuen, entfallt mir die Feder: ich kann, ich mag solche Sze- 
nen nicht ausmalen. Leser, die die Welt kennen, kennen auch 
die groben und feinen Kiinste solcher elender Weibsstiicke. 
Denen aber, die das unschatzbare Gliick noch besitzen, die 
Welt nicht zu kennen, denen mocht' ich sie um alles in der 

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Welt nicht naher kennen lehren, als es notig ist, sie darauf 
aufmerksam zu machen, damit sie sie fliehen und verab- 
scheuen; und haben sie Kinder, die sie in die groBe Welt sto- 
Ben miissen, diese beizeiten dafiir bewahren, sie ihnen fliehen 
und verabscheuen lehren. 

Es war zwei Uhr des Morgens, da die jungen Herren das 
Haus verlieBen. Der eine, ein kurlandischer Student, nahm 
eine noch nicht bezahlte goldene Uhr und der andre, ein pohl- 
nischer Fahnrich, einen ebensowenig bezahlten brillantenen 
Ring weniger mit heraus, als er hineingebracht hatte. Auch 
hatte dort unter diesen beiden die Eifersucht ihren verderb- 
lichen Samen gestreut, und mancherlei Stichelreden hatten 
ihnen schon oft gegenseitig das Blut zu Kopfe getrieben und 
die Hand zum Degen gefuhrt, den sie denn aber doch aus Re- 
spekt gegen die Signoka steckenlieBen. Kaum aber waren sie 
auf der StraBe, so ging der Krakeel von neuem an, und es 
wahrte nicht lange, so schimpften sie sich, zogen vom Leder 
und hieben sich auf dem Markte. Der Fahnrich bekam eben 
eine Schramme iiber die Nase, als die Rathauswache dazukam 
und die Herren allesamt, die beiden Kauf diener nicht ausge- 
nommen, arretierte. Sie setzten sich anf anglich zur Wehr, der 
Kurlander verwundete auch einen Soldaten sehr schwer, zu- 
letzt behielt' aber die Wache die Oberhand, und sie wurden 
nach der Wache geschleppt. 

Was ihre Lage in der Wachstube vollig abscheulich machte, 
war, daB sie alle ganz ohne Geld waren. Der alte Bediente fur 
die Ratz und f iir die Zahn, oben an der Treppe, und das buck- 
lichte Weib, unten an der Ture stehend, hatten ihnen noch 
das letzte Silbergeld zum Trinkgeld abgebettelt. (Ihrer bei- 
derseitiges Gehalt bestand eigentlich in solchen Einnaiinien.) 
Da von den Soldaten keiner, ohne vorher bezahlt zu sein, zum 
Barbier gehen wollte,so muflte mein Herr Fahnrich dieNacht 
iiber unverbunden bleiben. Doch was kummert mich deren 

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ganzer ProzeB, der ihn en nachher die Holle noch. selir helB 
machte! 

Unterdessen die jungen Herren in der Wache schmachteteii 
und im Herzen wiiteten, ging's in der Wohnung des Picciolo 
gar lustig her. Dieser, der wahrend des ganzen Kommerzes 
keinen Augenblick geschlafen, obsclion er die Augen immer 
f est zuhielte und tapfer schnarchte, sprang, sobald die jungen 
Herren zur Stube heraus waren, von seinem Stubl auf und 
sab der Zuruckkunft seiner Tochter, die die Herren die erste 
Treppe hinunterbegleitete, durch die Tiirritze mit Sehnsucbt 
entgegen. Diese verweilte sich etwas lange, denn sie bemiihte 
sich, den Ring so gut als irgend m5glich an ihrem Leibe zu 
verbergen, damit ihn die Eltern nicbt sahen und sie ihn ihrem 
rechten Liebhaber, dem jungen, jiingst vertriebenen Kauf- 
mann, den sie aus heftiger Leidenschaft unterhielt, zustecken 
konnte, urn ihn dadurch ^sromoglich zu verbinden, daB er sie 
zur Frau nahme. 

Die Uhr hielt sie in der Hand, da sie hinaufkam. Picgiolo 
aber, der ebensogut vom Ringe wuBte, fragte zuerst nach die- 
sem. Davon wollte sie nichts wissen. Nun ging die Katzbalge- 
rei los. Eine Weile blieb's bei gegenseitigen Schimpfen, Flu- 
chen und Drohen. Dann gab's von seiten des Herrn Vaters 
die erste Ohrf eige. Die Jungfer Tochter, die noch Lebensart 
genug hatte, nicht sogleich wieder zu schlagen, drohte, die 
Uhr noch immer in der Hand haltend, daB, wenn er sie noch 
einmal anriihrte, sie die Uhr sogleich in tausend Stiicke zer- 
treten wollte. Darauf erfolgte ein zweiter, harterer Kopf- 
schlag und zugleich ein Griff nach der Uhr. Sie stiefi den Al- 
ten aber, daB er weit von ihr taumelte, warf die Uhr auf die 
Erde und trat sie mit groBer Wut in kleine Stiicken. 

Nun flog unser hinkender Held mit teuf lischer Wut auf sie 
zu, warf sie, ihrer ernstlichen Gegenwehr ohngeachtet, auf 
die Erde, riB ihr die Haare in groBen Biischeln aus dem Kopf , 

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die Kleider vom Leibe, fand aber nicht den Ring. "Qber den 
graBlichen Larm war die im Winkel liegende alte SigpvTORA 
aufgewacht, taumelte auf die blutenden Streiter zu, und da 
sie sie nicht mit Zerren und Kneipen auseinanderbringen 
konnte, goB sie ein groB Glas kaltes Wasser liber sie aus. 

Das kiihlte den alten Picciolo etwas ab, und er vermochte 
nun der Alten den Betrug und das mit FiiBen getretene Gliick 
der Tochter nachdriicklich vorzustellen. Die Mutter fand's 
zwar auch bis zum Schimpfen und Fluchen abscheulich. Da 
die Tochter denn aber doch ubel zugerichtet war, so blieb's 
von ihrer Seite beim Schimpfen und Fluchen, wovon die 
Halfte noch den Herrn Gemahl traf . 

Die Tochter, die aufs Bette gebracht wurde, hatte bei all 
ihren Schmerzen die innere Freude, daB ihr Ring unentdeckt 
geblieben, daB sie ihn bald, wenn die Alten nur zu Bette gin- 
gen, an ihren Liebhaber wurde geben konnen — denn ihre ge- 
wohnliche Zusammenkunft war bald nach Anbruch des Ta- 
ges, wenn die Alten am festesten schliefen — und daB ihre 
Wunden und Beulen vielleicht so viel iiber ihn vermogen 
wiirden, daB er sie gleich mit sich in sein Haus nahme. Ihre 
Wiinsche w r urden erf ullt. Die Eltern gingen, nachdem sie eine 
auf dem Tische stehende halbe Bouteille Champagner aus- 
geleert, zu Bette. Der Liebhaber kam mit Anbruch des Tages 
und nahm sie mit zu sich. Obschon er sich nicht zur Trauung 
verstehn wollte und sie wohl einsah, daB sie das bald wieder 
ungliicklich machen wiirde, so zog sie doch das entfernte Un- 
gliick dem nahen vor, ging mit ihm und hoffte, durch ihre 
List das endlich noch zu erhalten, was sie durch Aufopfrung 
ihrer und ihrer Habseligkeiten nicht hatte erhalten konnen. 

Gulden, der den Abend neben dem Wein viel schweres Bier 
getrunken, war auf keine Weise zu erwecken gewesen. Hein- 
rich hatte ihn oft wahrend des Tumults freundlich zugeredet 
und bei der Hand geschiittelt, wurde aber, sobald es der Alte 

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fiihlte, mit FuBstoBen weggetrieben. Er muBte ihn also in 
dem Winkel, wo er neben-.der Alten eingeschlafen war, lie- 
genlassen, setzte sich weinend neben dem Alten und ging, da 
ihn Piggiolo nicht die Nacht uber da wollte sitzen lassen, mit 
qualender Unruhe im Herzen zu Bette. 

Er wuBte gar nicht, wie ihm so ganz sonderbar zumute 
war: so angstlich, so wiiste, so voll. Es war ihm, als wenn ihm 
in alien Gliedern etwas lage, das ihn f orttriebe, und doch war 
es ihm so schwer, so beklommen, daB er nicht das geringste 
hatte unternehmen konnen. Er sehnte sich so herzinniglich 
und wuBte nicht, wonach. Er fiihlte innern Abscheu und 
wuBte nicht, wofiir. Tausend Bilder schwebten vor seinen 
Augen. Tausendf aches Geschwirr von Tonen summte um 
seine Ohren. In der Brust war es ihm so hohl, so leer, im 
Kopf e voll und schwer, wie mit Blei gefiillt. Hande und FiiBe 
zitterten ihm. Das Herz flog hoch. Er hatte das Licht auszu- 
loschen vergessen. Es stand unter einem groBen Spiegel, der 
gerade iiber sein Bette hing. Von ohngefahr erblickt er sein 
Gesicht im Spiegel, sieht es totenblaB, die Augen umnebelt 
und starr, die Schlafe aufgeschwollen, die Augenbraunen zu- 
sammengezogen, die Nasenlocher ohngewohnlich stark geoff - 
net und in starker Bewegung, die Lippen blau und zitternd, 
die Oberlippe schief in die Hohe gezogen, die Unterlippe ge- 
senkt, die Zahne auseinander 

Lange starrt er sein Bild an und kann sich nicht entschlie- 
Ben, ihm entgegenzugehn. Endlich springt er aus dem Bette, 
geht die ersten Schritte schnell, dann langsamer, dann wan- 
kend drauf zu und loscht das Licht aus. Aber das Bild bleibt 
ihm vor Augen, er f angt starker an zu zittern, irrt lange her- 
um, ohne sein Bette zu finden, findt es endlich und wirft sich 
mit einem angstlichen Schrei hinein, das Gesicht in die Bet- 
ten verhiillt. 

Aber die Schreckbilder wahren fort. Unter ihnen erscheint 
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ihm audi seine gute Mutter weinend und betend, wie er sie 
oft und beim Abschiede noch gesehn. Nun entstiirzt ihm ein 
Strom von Tranen, und er weint und heult laut. Es f allt ihm 
schwer aufs Herz, daB er die letzte Ermahnung seiner Mut- 
ter, stets Gott vor Augen zu haben und fleiBig zu ihm zu be- 
ten, ganz aus der Acht gelassen, daB er, solang er von ihr ist, 
noch keinen Abend und keinen Morgen gebetet. Unter tau- 
send Tranen betet er laut sein gewbhnliches, auswendig ge- 
lerntes Abendgebet. Dabei denkt er sich sehr lebhaft ein Bild, 
das zu Hause iiber seinem Bette zu hangen pflegte, die Mut- 
ter Maria mit dem Kindlein auf'm SchoBe vorstellend. Aber 
Maria sieht aus wie seine Mutter und das Kind wie Friede- 
rike; es wird ihm nicht leichter; es tobt unaufhorlich in ihm 
fort, und der arme Junge ware diesem schrecklichen Gemlits- 
zustande, diesem plotzlichen Erwachen der Leidenschaften, 
durch friihe Bekanntschaft mit dem Laster gew r eckt, sicher er- 
legen, hatte ihn nicht der anbrechende Tag und das Aufklin- 
ken an seiner Tiire durch die entfliehende Signora einiger- 
maBen herausgerissen. 

Diese hatte der Mutter alles gewonnene Geld und dem 
alten schlafenden Gulden alles, was er von der Konzertein- 
nahme bei sich hatte, und noch dabei sein eignes Reisegeld 
aus der Tasche genommen und wollte im Vorbeigehen ver- 
suchen, ob die Tiire des Gulden offen ware und ob da noch 
etwas mitzunehmen sei. Heinrich hatte sich aber eingeschlos- 
sen, und da gab sie sich denn weiter keine Muhe. Indessen 
war dadurch bei Heinrich die Furcht vor Diebe entstanden, 
und diese benahm seinem vorigen Schrecken die Gewalt. Ein- 
schlafen konnt' er aber nicht, er stand auf und schrieb an 
seine Mutter, welches er auch bisher unterlassen hatte. 

Kaum aber war die Sonne so hoch gestiegen, daB auch in 
der engen StraBe am hohen Giebel des gegeniiberstehenden 
Hauses ihre Ankunft zu sehen war, so trieb's ihn nach dem 

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Garten zu seiner Friederike. Es war ihm aber heute so angst- 
lich, als'wenn er nicht gehn.diirfte. >Vielleicht weint sie, viel- 
leicht ist sie bos auf mich, vielleicht ist sie gar nicht einmal 
da oder hat die Gartentiire zugeschlossen.< All das war ihm 
sonst gar nicht zu Sinne gekommen, itzt aber peinigte es ihn 
so sehr, daB es ihm wirklich sehr viel Anstrengung kostete, 
hinunterzugehen. 

Lange stand er erst oben an der Treppe, dann wieder un- 
ten an der Treppe, dann an der Gartentiire und zitterte und 
bebte fur Angst. Endlich wagt er's, tritt in den Garten und 
sieht das Heine liebe Madchen da sitzen und weinen. Er ware 
f iir Scham und Schmerz fast in die Knie gesunken. Kaum wird 
sie ihn aber gewahr, so springt sie auf, lauft ihrem Bruder 
Heinrich wie gewohnlich mit herzlicher Freude entgegen, 
und indem sie ihm recht freundlich zulacht, rollen noch im- 
mer die hell en Tranen die Wangen hinab. Wie sie aber seine 
Totenblasse, seine Angst sieht, schwindet ihr Lacheln, und 
sie weint laut. 

Heinrich wagte es nicht, zu fragen, was ihr fehlte, war- 
urn sie weinte; sein unruhiges Gewissen klagte ihn als die Ur- 
sache davon an. Friederike vermocht' es lange nicht, ihm zu 
sagen, daB ihr Vater gestern abend sehr bos auf die liederliche 
Wirtschaft gewesen und geschworen habe, das lose Gesindel 
den folgenden Morgen aus dem Hause zu schaffen. Nun 
wuBte sie zwar nicht recht, ob er damit auch Gulden gemeint, 
und fing ihre Unterredung mit der Frage an, ob Heinrich ge- 
stern mit seinem Vater bei Sigintoke Picciolo oben gewesen. 
Da ward's ihm gewiB, daB sie um ihn weinte, und er erzahlte 
ihr im bittenden Tone die ganze Geschichte der gestrigen lie- 
derlichen Wirtschaft. 

Wie er dran kommt, daB die eine Mamsell ihm habe wol- 
len zierlich und zartlich kiissen lehren, wird er xiber und uber 
rot, wie mit Blut begossen. Es tat aber auf Friederiken eine 

102 



ganz andre Wirkung, als ihm sein unruhiges Gewissen pro- 
phezeite: Sie ward heiterer, ward begierig nach der Kunst 
und bat ihn, sie ihr auch zu lehren. Das Zierliche ward ihm 
schwerer als das Zartliche. 

Auch die Geschichte vom Pfanderspiel tat eine ihm uner- 
wartete Wirkung auf das kleine Madchen. Es war, als wenn 
ihr Heinrich wichtiger dadurch ihr wiirde, als wenn sie nur 
unzufrieden war, daB sie nicht mit dabeigewesen. Bei Spielen 
mit Kindern war das doch ganz anders mit ihr gewesen. 

Wie er aber seine Geschichte vollendet hatte, schopfte er 
aus ihrer Heiterkeit Mut und fragte, warum sie erst so ge- 
weint, und kaum fangt sie ihm an den schrecklichen Vor- 
satz des Vaters zu entdecken, so geht oben der Larm los. 

Der Wirt war friiher aufgestanden, urn die lose Wirtschaft 
noch den Morgen loszuwerden, hatte den alten Picciolo ge- 
weckt und ihm ganz kalt gesagt: Da sein Haus doch einmal 
nicht so recht bequem fur liederliche Wirtschaft eingerichtet 
ware, so mochte er so gut sein, die hier angefertigte Rech- 
nung von zweiundvierzig Talern zu bezahlen und sich ein 
andres Logis zu erwahlen. SiGrsTORE Picciolo horte in die- 
ser Anrede nichts als das : >liederliche Wirtschaft<^ und da er 
selbst nie dagegen so recht in Eifer geraten konnte, rief er 
seiner Frau und Tochter, dafi sie kamen, ihre Ehre zu ver- 
f echten. Der Wirt meinte, er habe an einer genug. Und siehe 
da, es kam auch nur eine, denn die Tochter war nicht zu fin- 
den. Alles Suchen war vergeblich, und das vermiBte Geld 
aus der Mutter Tasche bestatigte bald ihre Flucht. 

Nun ging die Alte mit Sturm auf den Signobje Picciolo 
los, daB er sie gestern so gemiBhandelt, und dieser wollte dem 
Wirt zu Leibe, daB sein Haus so unsicher sei. Der Wirt 
meinte aber, er hatte ihm seine Tochter nicht aufzuheben 
gegeben, sonst hatt' er sie in einem seiner eichenen Kleider- 
spinde verschlossen, wo sie keiner hatte beriechen sollen, viel 

105 



weniger stehlen. Mitten im abscheulichsten Wiiten und Rasen 
der beiden Alten erinnerte er nur immer an seine zweiund- 
vierzig Taler. Die Alte versicherte ihm mit Zetergeschrei, 
die Tochter hab' ihr all ihr Gold und Silbergeld mitgenom- 
men. »Wird soviet nicht gewesen sein« f erwiderte der Wirt, 
»sonst luiirde man ivokl nicht seit acht Tagen die Lichte und 
das JLeinol haben auf Borg holen lassen.« 

Das alte bucklichte Weib schwur aber, ihre Signora habe 
nur noch gestern abend vierzig Louisdor im Pharao gewon- 
nen. »So, so«, sagte der Wirt, »von den jungen Herren? Die 
haben sich nicht weit von meinem Hause geschlagen, sind 
nach der Rathauswache gefiihrt! I nun, den guten Leutchen 
wird auch die Zeit lang werden, die wollen auch Gesellschaft 
haben« — Und so ging er, die gefullten und noch nicht be- 
zahlten Bouteillen, die von gestern abend noch dastanden, 
untern Arm nehmend, sachte die Treppe hinunter, nahm 
ganz gelassen seine Pudelmiitze ab und setzte seine Knoten- 
periicke auf, zog seinen bunt kalmanknen Kascheking aus 
und zog seinen braunen BriiJBler kamelottenen Rock mit 
durchbrochnen messingnen Knopf en an, nahm seine ledernen 
Waschhandschuh unterm Arm, sein spanisches Rohr mit 
elf enbeinernen Knopf, eine schwimmende Seejungf er vorstel- 
lend, in die rechte Hand, seinen grofien Hut in die linke, und 
indem er sich von seiner Tochter die schwarzen Tuchkama- 
schen abstauben liefi, hustete er dreimal auf, als sarin' er auf 
eine Anrede, und dann ging er ganz langsam zum Herrn Biir- 
germeister, bat sich die Wache aus und lieB den Signore Pic- 
ciolo mit seinem ganzen Anhange zu den jungen Herren in 
die Rathauswache fuhren. Dem Signore Picciolo gab er an 
die jungen Herren die Rechnung fur den gestrigen Wein mit. 

Fur Gulden interessierte sich ein pohlnischer Fiirst, der seit 
zwei Tagen in dem Gasthofe logierte und den Knaben hatte 
spielen horen. Er war ein sehr groBer Freund der Musik, 
104 



hatte selbst eine ansehnliche Kapelle, und schon war ihm 
der Gedanke eingekommen, unsern Heinrich mit nach War- 
schau zu nehmen. 

Guldens Wut uber das gestohlne Geld Avar unbeschreib- 
lich. Das erste war, daB er den armen Jungen bei den Haaren 
die Treppe hinaufschleppte — das muBte Friederike sehen — 
und ihn ganz erbarmlich abpriigelte, weil er ihn nicht ge- 
weckt, nicht bewacht hatte. Seine Wut verwandelte sich bei 
Ankunft der Wache in Angst, mit weggeschleppt zu werden. 
Sein und des Knaben Wehklagen f uhrte den pohlnischen Fiir- 
sten auf den Hausflur und bewog ihn zum Mittler. 

Auch konnte Gulden das Seinige zur Bef riedigung des Wirts 
beitragen, denn die vom Abt erhaltene Dose und zwolf Du- 
katen hatte er in seinem Kasten wohl aufgehoben. Acht Du- 
katen muBte er an den Wirt bezahlen. Da er nun aber weh- 
klagte, wie er mit vier Dukaten nach Warschau kommen 
sollte, erbot sich der Furst, seinen Knaben mit hinzunehmen; 
fur den Alten habe er keinen Platz. Gulden erbot sich aber 
sogleich, auf dem Bock zu sitzen, wenn der Furst nur sein 
Heinchen in den Wagen nehmen wollte. Das lieB sich der 
Furst gefallen, und es ward also bestimmt, daB sie morgen 
fruh abreisen wollten. 

Gulden fertigte nun den treuen Rothbart ab, gab ihm fur 
die bisher treulichgeleistetenDienstedenSchecken und sandte 
seiner Frau die Dose und einen Dukaten. Mit dem Auftrage, 
die Dose wohl aufzuheben. Erst aber zu alien Hohen und 
Niedrigen in der Stadt hinzugehen, die Dose zu prasentieren 
und dabei zu erzahlen, Heinrich habe sie mit hundert Du- 
katen gefiillt — es gingen kaum funfzig in die Dose — vom. 
Konige von Polen bekommen: Der Konig triig' ihn sehr oft 
auf dem Arm und konnte sich gar nicht satt an ihm kiissen. 
Von dem Dukaten sollte sie sich gute Tage pflegen und es 
den Leuten sehen lassen. 

105 



Von Picciolo will ich nur noch dieses erwahnen, daB sich 
allerlei^eueBubenstiicke entdeckten und er,nach einem lang- 
wierigenProze£,mit seinem ganzen Anhange iiber dieGrenze 
gebracht wurde. 

Die Tochter hatte sehr bald erfahren, daB ihr Liebhaber, 
vermeinter Kaufmann aus Danzig, ein religierter Student 
axis Konigsberg war und die Wohnung, in die er sie gefiihrt, 
ein offentliches liederliches Haus. Wie das erste so ganz ent- 
deckt war und sie ihm hart drum anging, nahm er an einem 
Morgen all ihre Habseligkeiten zusammen und iiberlieB sie 
der Diskretion ihrer edlen Wirtin. Die ihr mit vieler GroB- 
mut versicherte, sie wollte ihr so viel Gelegenheit als mog- 
lich vers chaff en, ihre Sehuld fur vierzehntagiges Logis und 
Zehrung recht bald abzuverdienen, und dann hatte sie ja 
die Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte. 

Wie sich aber Signoba Picciola nach dem Schicksal ihrer 
Nebenschwestern, die sie nun nach und nach kennenlernte, 
erkundigte, ergab sich's, daB die ebenso angefangen und in 
f iinf bis sechs Jahren noch nicht das Ende finden konnen. 

Ich halte mich von der genauen Schilderung dieses Hauses 
und seiner Wirtin zuriick. Ich will aber doch die Anmerkung 
nicht verschweigen, daB ich in Romanen und Komodien und 
Gemalden fast immer eine falsche Schilderung von Kupple- 
rinnen gefunden. Man malt die Weibstiicke gemeinhin sehr 
haBlich, sehr bose, Teuf el und Holle im Gesicht. Das ist aber 
gar nicht so in der Natur. Ihre wohlbeleibte Gestalt, ihr vol- 
lig ruhiges Gesicht, ihre lachelnde jovialische Miene zeugt 
gemeinhin von einem vollig eingeschlaf erten, getoteten Ge- 
wissen, und solange ihre Einnahme gut bleibt — sonst ist's 
Holle und Teuf el — , leben sie in einer ununterbrochnen See- 
lenruhe, die vollkommner sich auf dem Gesichte malt als 
diejenige, die durch ein gutes Gewissen erzeugt wird, weil 
man bei ihr auch keineSpur von einer Schildwache iiber sich 

106 



selbst findet. Ich habe mir daher schon oft gedacht, daB einem 
Menschen, der an den Materialismus glaubt, eine Kupplerin 
in gutem Verdienste der beneidenswerteste Stand sein miiBte. 

Der Abschied zwischen unserm Heinrich und seiner Frie- 
derike war sehr traurig. Den Abend iiber saBen sie ganz 
stumm, sich bei der Hand haltend, im Garten, hatten Kopf 
und Herz so voll von Dingen, die sie sich alle noch sagen woll- 
ten, und sagten sich nichts; weinten. Den andern Morgen 
sahn sie sich noch einige Augenblicke im Garten und ver- 
sprachen sich, einander zu schreiben. Dann ging's fort. Im 
Wagen der Fiirst, seine Matresse, deren Kammerjungfer und 
Heinrich; drauBen auf'm Kutschbock Gulden mit zwei Be- 
diente, der Kammerdiener zu Pferde vorauf, ein Jager zu 
Pf erde neb en dem Wagen. Und nun ging's, ohne daB auBer- 
halb dem Wagen etwas Merkwiirdiges, unsern Heinrich be- 
treffend, vorgefallen -ware, grade nach Warschau. Was im 
Wagen das mogen sich die Leser selbst denken. 

Ich bin kein Freund vom Ausmalen des Lasters der Wol- 
lust; sowenig zur sogenannten Warnung und Heilung als zur 
Ergotzung. Ich verachte alle die Schriftsteller von ganzem 
Herzen, die ihre schoneFarben dazu verwenden, er sei Dichter 
oder helf siichtiger Schreier. Von diesen begreif ich's oft nicht, 
ob's wirklich Unwissenheit in der Geschichte, oder Blindheit 
furs Vergangene und Gegenwartige, oder schwarze Galle, ge- 
reizt durch fehlgeschlagene ehrgeizige Projekte, gekrankten 
Hochmut und Eitelkeit, oder Prahlerei, Liebe zur Poesie, zur 
Gewohnheit gewordene wichtige enthusiastische Sprache, oder 
— "was ich wohl am ^venigsten vermute — eigenes Gefiihl sei- 
ner Unwxirdigkeit ist, ^vas so viele Schriftsteller itzt zu so er- 
barmlichen Geschrei iiber die Sittenlosigkeit unserer Zeit be- 
wegt. 

Wahrlich, ihr voreiligen Schriftsteller — meistenteils Prah- 
ler — , ihr breitet durch eure ausposaunte Helfsucht unter den 

107 



bessern Menschen — oft tausendmal besser als ihr groBmau- 
ligen Heifer — tausend Laster aus, die dem grofiten Teil des 
Menschengeschlechts ohne euch so gewifi unbekannt bleiben, 
wie ihr ihnen selbst ohne eure Prahlerei unbekannt bleibet. 
Das ist's aber, was euch zum Schreiben peitscht. Ihr wollt 
immer gern an alien Ecken gelesen sein, wollt wenigstens 
heute f lir mehr gehalten sein, als ihr wirklich seid ; denn fur 
die Zukunft raubt ihr euch dadurch auch noch das wenige 
Verdienst, so ihr wirklich habt. 

Bessert euch doch erst selbst aus alien eur en Kraf ten. Glaubt 
mir, das Beispiel eines moralisch guten, vollkommnen Man- 
nes bessert ehe tausend Bewohner einer Stadt, ehe tausend 
Schriftsteller, die uber die Keuschheit schreiben und den Hu- 
ren nachlaufen, einen einzigen Mitbiirger bessern. 

Und was ist wohl der wahre Grund, daB ihr so genau aufs 
ganze Menschengeschlecht wirken wollt, die ganze Welt bes- 
sern wollt? Wahrhaftig nur, weil euch euer eignes Leben es 
unmoglich macht, in dem kleinen Zirkel, in dem ihr lebt, 
etwas auszurichten. Doch ich schweife zu weit aus. — 

Unterwegens hatte der Fiirst einigemal mit Gulden davon 
gesprochen, er wolle Heinrichen zu sich nehmen, wolle ihn 
bei seinem Musikdirektor, der ein vortrefflicher Mann und 
groBer Kiinstler sei, weiter in der Musik unterrichten lassen, 
ihn auch zu andern galanten Wissenschaften anhalten. 

Gulden hatte aber seine Rechnung schon gar zu sicher ge- 
macht, wie er sein Kapitalchen bis in sein spates Alter nut- 
zen wollte, und mochte sich darauf nicht einlassen. Zur Aus- 
flucht nahm er, sein Heinchen miisse erst ein guter lutheri- 
scher Christ werden, miisse erst eingesegnet werden; dann 
wollte er ihn dem Fiirsten wieder nach Warschau hinbringen. 
Vergeblich wandte der Fiirst hiewider ein, sein Musikdirek- 
tor war auch ein Lutheraner und ein Mann, der viel auf Re- 
ligion hielt. 
108 



Dieser Mann, der Musikdirektor des Fiirsten, hat gar zu 
groBen Anteil an dem ganzen kunftigen Leben unsers Hein- 
richs, als daB ich mich nicht bei ihm aufhalten sollte und 
meine Leser mit ihm bekannt machen. Seinen Namen darf 
ich nicht nennen. Er lebt noch und will nicht genannt sein. 
Ich will ihn Hermenfried nennen. 

Hermenfried war von eilf Kindern der alteste Sohn eines 
wohlhabenden Kaufmanns in Dresden, Sein Vater, ein Mann 
von sehr vieler gesunder Vernunft und edlem Herzen, ein 
Mann, gesund an Leib und Seele, gab ihm eine vernunftige 
natiirliche Erziehung. 

Da die Mutter ihm bei der Geburt mit siiBem Lacheln den 
Knaben reichte, trat er mit ihm zum offnen Fenster, blickte 
zum mondhellen, sternenhellen Himmel und sprach in seinem 
Herzen: >Ich danke dir, Gott, daB ich Vater eines Menschen 
bin; laB ihn mir auch zum Menschen erziehen!< 

Er war fest entschlossen, ihn nicht eher zu irgendeinen 
Stand zu bestimmen, als bis sich in dem Knaben die hohern 
Seelenkrafte entwickelten und er selbst imstande ware zu 
wahlen. Bis dahin ging sein ganzes Bemuhen, ihm einen 
dauerhaften, f esten Korper zu verschaffen, ihn an MaBigkeit 
und Folgsamkeit zu gewohnen. Fiir des Knaben ubrige mora- 
lische Erziehung war er weiter nicht besorgt, desto mehr 
aber fur sein eigenes Betragen und das Betragen aller derer, 
die um den Knaben waren; denn er war fest iiberzeugt, daB 
moralisch gute Erziehung nur durch Beispiel gelehrt werde. 

Er hatte viel iiber Erziehung nachgedacht, viel druber ge- 
lesen und erstaunte oft, sehr oft, wenn er Dinge, die die 
Dummheit, der Aberglaube, die Gewohnheit fast allgemein 
und von jeher als unschuldige und notwendige Mittel zur 
Erziehung ausgebreitet, wenn er diese als elende MiBbrau- 
che, als schleichende Gifte, die die Gesundheit Leibes und der 
Seel en zerstoren, kennenlernte. Und je mehr er las, je mehr 

109 



er nachdaehte, desto melir wurde er iiberzeugt, daB die Men- 
schen wohl alle — nur in* verschiedenen Graden — gut ge- 
boren wiirden und daB die gauze groBe Kunst der morali- 
schen Erziehung nur darin bestehe, das Kind, das herrliche 
Werk der Natur, nicht zu verderben, zu zerstoren (bessern 
diirften wir's wohl nur dann, wenn wir's schon verdorben 
haben) und ihm die wahre Veranlassungen zu seiner Entwik- 
kelung, die ihm Natur und Zustand der Welt darbieten, nicht 
zu rauben und iiber alles nicht zu verriicken. 

Die ganze Erziehung ware also negativ? 

Wem waren hier am Ende nicht zwei Worte im Wege? Zu- 
stand der Welt. Diesen miissen wir vor den Augen des Kin- 
des, des Knaben, des Junglings zu verbessern oder vielmehr zu 
berichtigen, zuriickzufiihren suchen. Wir miissen, soviel an 
uns ist, durch unser Beispiel, durch das Beispiel aller und al- 
lem, was um ihn ist, Gelegenheit, Veranlassung, zu rechter 
Zeit auch Hindernisse und Schwierigkeiten darbieten, sich 
zum Gut en zu entwickeln, auszubilden, zu bestimmen. 

Ich gesteh' es gern, dafi dieses uns in gegenwartiger Welt 
unendlich schwerer werden mu£, als es uns itzt ankommt, den 
zwolften Teil unsers Einkommens fur die Erziehung unsers 
Knaben hinzugeben. Wie leicht aber wird unsern Sohnen, die 
so zu guten Menschen gebildet werden, die Erziehung ihrer 
Kinder werden! Erziehung wird alsdann kein besonderes Ge- 
schaft mehr sein. 

Jede Handlung des Vaters, der Mutter, der Hausgenossen 
ist eine lebendige Lehre fur den Sohn. 

Die maBige,naturlicheNahrung der Eltern sagt demKinde 
am nachdriicklichsten : So muBt du leben, - macht's ihm zur 
Gewohnheit, zur Notwendigkeit, so zu leben. Die Gesundheit 
der Eltern, seine eigene Gesundheit zeigt ihm am nachdriick- 
lichsten die gute Folge der MaBigkeit, sagt ihm am nach- 
driicklichsten : Du muj3t maflig leben, um gesund zu bleiben. 

110 



DieBeschaftigung derEltern,die iminer einen guten,niitz- 
lichen Endzweck hat, sagt ilim am nachdriicklichsten : Du 
muftt dich niitzlich beschdftigen, muj3t arbeiten* 

Das Geld, so der Vater dadurcli gewinnt und wofiir Nah- 
rungsmittel und Kleidung und Vergniigungen verschafft wer- 
den, sagt ihm am nachdriicklichsten: Wenn du arbeitest, hast 
du Brot und Kleidung und Vergniigen* 

Die Vergniigungen der Eltern, die immer auf Gesundheit 
und Aufheiterung abzielen und also groBtenteils in Leibes- 
bewegungen und frohlichem GenuB der Natur hestehn, die 
reuelose Frohlichkeit, mit der sie wieder von solchem Ver- 
gniigen an ihr Geschaft gehn, sagen ihm am nachdriicklich- 
sten: Du mufdt solche Vergniigungen wdhlen, die dich star- 
ken, aufheitern und zu neuer Arbeit fdhig machen. 

Die Liebe, die Gefalligkeit, die Dienstfertigkeit, die die 
Eltern gegen ihre Nebenmenschen bezeugen, und die Liebe 
und Dankbarkeit, mit der andere den Eltern wieder zugetan 
sind, sagen ihm am nachdriicklichsten: Du muj3t deinen Ne- 
benmenschen lieben und ihnen dienen; damit sie dich wieder 
lieben und dir helfen. 

Die himmlische Heiterkeit im Auge der Eltern nach voll- 
brachter guter Tat im verborgnen sagt ihm am nachdriick- 
lichsten: Du muj3t im stillen Gutes tun, ivenn du die hochste, 
reinste aller Belohnungen dafiir einernten willst. 

Die Achtung, die jeder gute Mensch dem Vater und der 
Mutter ihrer MaBigkeit, ihrer Arbeitsamkeit, ihrer Heiter- 
keit, Menschenfreundlichkeit, reinen Tugend wegen bezeigt; 
die Zufriedenheit, in der Eltern mit dem von Gott erhaltenen 
und durch ihren FleiB Erworbenen leben; die Ruhe der See- 
len und das zuversichtliche Vertrauen auf Gott, mit dem die 
Eltern in triiben Tagen ihre Zuflucht zu ihm, dem allgiiti- 
gen, liebevollen Vater, nehmen; die Heiterkeit und Beruhi- 
gung, mit der sie von jedem herzlichen Gebete sich erheben; 

111 



die sagen dem Kinde am nachdriicklichsten : Du muj3t Gott 
vertrauen und ihn von Herzen lieben, Gott, dem guten Voter, 
der keines seiner Kinder verlaflt; du mufit zufrieden sein mit 
dem, was er dir gibt, er gibt dir alles aus der Fiille seiner 
Gnade; du muj3t deinen Nebertmenschen lieben, ihm dienen, 
muf3t heiter, arbeitsam, mdj3ig, gut sein, urn mit dem Bei- 
falle Gottes, mit deinem eigenen Beifall, mit dem Beifall der 
Guten — gliicklich zu leben. 

Ich kann mir fur alle Stande kein anderes Mittel denken, 
dem Kinde zu lehren, wie dauerh after und wahrer Wohlstand 
nur durch FleiB und MaBigkeit erlangt und erhalten wird 
und wie man gliicklich lebt, als das Beispiel der Eltern und 
derer, die um ihm sind. 

Man lehrt itzt sehr weise : Die Grof3en und Reichen sollen 
alles Ersinnliche tun, ihren Kindern zu verbergen, da0 sie 
geborne Herren sind. 

Solange GroBe und Reiche ihre groBte Ehre, ihr grofites 
Verdienst darinnen setzen, groB (hochgeborn) und reich zu 
sein, so lange wird's GroBmiitter, Eltern, Verwandte, Freun- 
de, Bekannte, Fremde, Bediente und Hausgenossen geben, 
die alle ihre eitlen, schmeichlerischen Kiinste anwenden wer- 
den, es dem jungen Herrn recht fest einzupragen, daB er ein 
geborner Herr sei. 

Und das Vorsagen ist noch lange nicht das Argste dabei. 
Der hochgeborne Junge muB noch oft einen rufen, der ihn 
auf den Nachtstuhl hebt und hernach noch die engen Hosen 
zuknopft. Dies all ein wiirde alien Lobreden, von denen der 
hochadliche Junge doch nichts versteht als den Katzenbuckel 
des Redners, sein verzerrtes Gesicht und den HandkuB zum 
Eingang und SchluB der Rede, vollig das Gleichgewicht hal- 
ten. DaB er aber jenem, der ihm dient, der ihm notwendig 
ist, rufen kann, befehlen kann, ihm zum Dank fur die zuge- 
knopften Hosen auch wohl ins Gesicht schlagen kann, wenn 
112 



die Hosen ihn driicken, mit einem Worte, daB der Junge in 
alien Dingen wie ein Herr gehalten wird, nicht wie ein Kind, 
wie ein hiilfloses Kind; daB die, die ihm helfen, nicht seine 
Freunde, seine Wohltater sind, sondern seine Sklaven, das 
erklart's ihm ganz deutlich : er sei Herr geboren. 

Ferner : Reiche und vornehme Eltern sollen ihren Kindern 
alle ^dussichten von Reichtumern und vom hohern Stande 
verborgen halten. 

Wie ist das moglich, solange die Eltern in der xippigsten 
Verschwendung leben und die Kinder an alien, was die Eltern 
haben, genieBen, Anteil nehmen? solange ihnen alles gegeben 
wird, wonach sie verlangen? solange man dem Kinde die- 
selbe Ehrerbietung bezeigt als den Eltern? solange Eltern 
auch darinnen, daB dieses geschahe, ihr eigenes Ansehen 
suchen? 

Konnen sie's ihm nicht langer vorenthalten, so sollen sie 
ihm begreiflich machen^ wie leicht ein ererbtes Gliick zu nichts 
iverden kann. 

Wenn nicht glucklicherweise furs Kind eine Feuersbrunst 
des Vaters Haus und Hof verzehrt, so weiB ich nicht, wie das 
Kind auch dieses fassen soil. Es sieht seine Eltern stets un- 
beschaftigt, stets Hande voll Geld leer werden. Das Kind wird 
aus dem ersten Umstande bald abnehmen, daB es dem Vater 
alles zugef alien sei, ob von Gott, vom Teufel oder vom GroB- 
vater, das ist fur ihn gleich. Dann sieht's, daB alle Tage Gold 
weggeworfen wird und daB es den andern Tag doch immer 
wieder ebensogut geht als den vorigen. Weiter sieht ein Kind 
nicht. 

Ebendiese stete Verschwendung der Eltern bei stetem Mii- 
fiiggange und steter Unordnung macht's auch dem Kinde 
unmoglich zu begreifen, daB nur Ordnung und Weisheit, 
Sparsamkeit und FleiB einen dauerhaften und wahren Wohl- 
stand hervorbringen und erhalten konne. 

113 



Ein Mittel ware nur noch, wie das Kind aus dem schlech- 
testeirBeispiele der Eltern einen vortrefflichen Unterriclit fiir 
sich ziehen konnte. Der Vater miiBte dem Kinde alle die 
Sorgen, alle die miihsamen und oft niedertrachtigen Wege, 
die er ohngeachtet seines Reichtums einschlagen muB, urn 
immer hinlangliches Geld fiir seine Verschwendung und die 
Verschwendung seines Weibes herbeizuschaffen, sehen und 
anhoren lassen; er miiBte ihm sehen lassen, wieviel Ranke 
und List es ihm kostet, sich ohnerachtet seiner hohen Geburt 
in Ansehen und Ehren zu erhalten. 

Das war ein Mittel, dem Kinde, das ohnerachtet aller Miihe, 
die man sich gegeben, es zu verderben, doch noch genug na- 
tiirlicher Mensch ist, um auf der griinen, blumigten Aue, 
unterm blauen, hellen Himmel, in freier, heitrer Luft, an 
dem leichten Spiel tausendf arbiger Schmetterlinge mehr Ver- 
gniigen zu finden als bei goldnen Wanden, im dampfenden 
Saal an dem steifen Puterhahnentritt hochfrisierter, gold- 
geschmiickter Narren, diesem Kinde all die mit Gold und 
Seelenruh' erkaufte Torheiten verachtlich zu machen. 

Wo gibt's nun aber Eltern, reiche und grofie Eltern, die 
verniinftig genug sind, ihrem Kinde die maBige, natiirliche 
Erziehung des verniinf tigenLandmanns zu geben ? Wo torichte 
Eltern, die bei der unsinnigen, albernen Erziehung, die sie 
ihren Kindern geben, Selbstverleugnung genug hatten, dem 
Kinde ihre Torheiten aufzudecken? 

Weil kein verniinftiger Mensch so leicht hofEen darf , daB 
Eltern, und am wenigsten reiche und vornehme Eltern, die 
Erziehung bei sich selbst anfangen werden, so rat man jetzt 
fleiBig eine ganzliche Entf ernung vom vaterlichen Hause als 
das wirksamste Mittel an, den Kindern ihren Stand, ihr Ver- 
mogen verborgen zu halt en. 

Es ist hart, das Hartste, was ein Mensch sich denken kann, 
seiner Kinder, seines erneuten, verjiingten Selbsts beraubt 

114 



zu werden! Nicht sehen sollen, wie das herrlichste Geschopf 
Gottes wachst, zunimmt, reift, nicht all Augenblick fiihlen 
sollen, wie dieser korperlich abgesonderte Teil meiner selbst 
durch weit starkere Bande als alle Bande von Sehnen und 
Haut mit mir verbunden, mit meinem Herzen unzertrennlich 
verwandt ist; nicht allaugenblicklich fiihlen sollen, wie diese 
Bande mit jedem Augenblick fester zugezogen werden; nicht 
fiihlen sollen, wie diese zarte Pflanze, die ohne meine Pflege, 
ohne meine Wartung, ohne meinen Schutz nicht wachsen, 
nicht reifen konnte, von mir gepflegt, von mir gewartet, von 
mir beschiitzt wird; nicht sehen sollen, wie diese von mir ge- 
pflegte, gewartete, beschiitzte Pflanze ein herrliches Gewachs 
wird, das liebliche Bliite, siiBe, nahrende Friichte tragt; diese 
Frfichte nicht selbst genieBen sollen; den nicht zum Freunde 
meiner Seelen haben, den mir die Natur zum Freunde be- 
stimmte; dem nicht der erste Freund seines Herzens sein, dem 
mich die Natur zum Freunde bestimmte; von ihm nicht hof- 
f en, nicht erwarten diirf en, daB er audi einst mein Pfleger, 
mein Warter, mein Beschiitzer werde! — 

Es ist hart, das Hartste, so ein Mensch sich denken kann! 

Aber sie verdienen es, die verachtlichen, elenden Geschop- 
fe, die die Menschheit in sich getotet, die sich aus den heil- 
samsten Dingen der Natur Gifte bereiten, mit denen sie sich 
vorsetzlich berauschen, vorsetzlich ihr schielendes Auge um- 
nebeln, daB es nicht sehe die Herrlichkeit Gottes, nicht sehe 
die entziickend schone Natur, die edle Menschheit! — 

Ja, sie verdienen es, die elenden, verachtlichen Geschopfe, 
daB man ihnen ihre Kinder entreiBe, damit diese gliicklicher 
werden, damit nicht auch die Welt den Anteil an ihnen ver- 
liere, den sie an ihnen haben soil. 

Hermenfrieds Vater erkannte und fiihlte ganz die Pflicht 
und den Vorzug der hauslichen Erziehung und fand unaus- 
sprechliches Vergniigen in der Erfullung dieser reizenden 

115 



Pflicht. Er war mit seinem Weibe - em naturlich gutes, im- 
verdoirbenes Geschopf — vollig eins. Er hatte alles, was er bei 
seinen Kindern beobachtet wissen wollte, in sehr wenigen Re- 
geln genau bestimmt, und da diese von seinem Weibe und 
nach deren Beispiel von den Hausgenossen genau oder doch 
die meiste Zeit erf iillt wurden, so horte man ihn nie iiber Be- 
schwerlichkeit der Erziehung oder Storung in seinen Geschaf - 
ten klagen. Jene Regeln betrafen auch bloB korperliche Ab- 
hartung und Gehorsam. Das iibrige iiberliefi er dem guten 
Beispiel derer, die um die Kinder waren, und der Bildung der 
Kinder untereinander. 

In der wissenschaftlichen Erziehung war er auf keine 
Weise voreilig. Was die Kinder bis in ihr achtes Jahr in Spie- 
len, in Spaziergangen, im Garten, auf'm Felde durch Fragen 
und Erzahlungen lernten, war ihm genug. 

Er hatte, eh er ein Weib nahm, reiflich iiber die Pflichten 
des Vaters nachgedacht und nahm daher einige Jahre vor 
seiner Verheiratung einen armen Burschen zu sich, bei dem 
er Fahigkeit und Liebe zu den Wissenschaften fand, und er- 
zog ihn zum Erzieher seiner Kinder, die er von seiner maBi- 
gen, ordentlichen Jugend und der Gesundheit seines kiinftigen 
Weibes wohl erwarten durfte. Er erzog ihn vollig so, wie er 
wiinschte, daB seine Kinder einst wurden. In den Wissen- 
schaften hielt er ihn vorziiglich zu Sprachen, zur Naturlehre, 
Geschichte, Erdbeschreibung und Mathematik, nebenher zur 
Musik und zum Zeichnen an. 

Seine Miihe und Kosten wurden ihm bald belohnt. Der 
junge Mann nahm sich mit Liebe und Eifer der Erziehung 
seiner Kinder an und machte sich dadurch verdient genug, von 
seinem bisherigen Pflegevater als Sohn und Miterbe ange- 
nommen zu werden. 

Von diesem erhielten die Kinder bis in ihr zwolftes Jahr die 
vorlaufige, fur alle Standeniitzliche, wesentliche wissenschaft- 
116 



liche Erziehung. Der Vater und die Mutter nahmen vorzug- 
lich Anteil an dem Unterricht in der christlichen Religion. 
Auch bei andern Dingen trugen sie nicht wenig zum guten 
Fortgange dadurch bei, daB sie in ihren miiBigen Stunden 
ernstlichen Anteil an dem Unterrichte der Kinder nahmen, 
der groBtenteils im Garten oder auf dem Felde erteilt wurde. 
Oder auch durch aufmunternde Anreden und Erzahlungen 
von dem Vorteil und der Annehmlichkeit der Wissenschaf- 
ten. Zum Beispiel will ich beschreiben, was der Vater einst 
den Kindern iiber den Gesang sagte, um ihnen die Singestun- 
de, an die sie nicht recht glauben wollten, wichtig zu machen. 
Man wird daraus auch sehen, wie der gute Vater jede Ge- 
legenheit, jede Riihrung der Kinder niitzte, um ihr sittliches 
Gefuhl zu bilden. 

»Kinder! wie ist euch zumute, wenn ihr in einer groBen, 
andachtigen Versammlung ein schones geistliches Lied mit 
hundert Kehlen singen hort ? Ich f iihle mich dabei immer von 
den siiBesten Gefiihlen durchdrungen. Und wenn die Ver- 
sammlung es recht andachtig, mit reiner, geddmpfter Stimme 
singt, kann ich's nie ohne Tranen anhoren. Kinder, wenn ihr 
mich dabei ansehen wolltet, ihr wiirdet gewahr werden, daB 
ich viele Verse vor Wehmut nicht mitsingen kann. Und sing' 
ich in dieser Empfindung >Jesus, meine Zuversicht<, so fiihl 
ich die Wahrheit davon weit starker, weit inniger, als wenn 
ich's bloB sage. 

Kinder !wenn ihr an einemschonen,heiternTage aus eurer 
Kammer in den Garten oder auf s Feld kommt, warum brecht 
ihr da oft, ohne daB ihr's euch eben vornehmt, in laute Tone, 
in Gesange der Freude aus? Und wenn ihr so eine Weile fort- 
singt, fiihlt ihr da nicht, daB ihr heiterer, frohlicher werdet? 
Oh, mir fullt's die Seele mit heitrer, reiner Freude, mit Ent- 
ziicken, wenn ich, durchdrungen von dem Anblick der herr- 
lichen Sonne, die so wohltatig die Felder und Wiesen und 

117 



Walder bescheint, daB sie wachsen und bliihen und Frucht 
trageii, die so herrlich alles beleuchtet, daB wir sehen und ge- 
nieBen konnen die schonen und groBen Werke Gottes, die 
schone Erde mit all ihren Bewohnern und all ihrem tausend- 
faltigen Segen, den schonen Himmel mit all seinen unzahli- 
genSternen — wenn ich, von diesem herrlichen Anblick durch- 
drungen, in frohlichen, dankbaren Gesang ausbreche! — Kin- 
der! dann steigt meine Freude, mein Entziicken aufs hochste. 
Das kann der Mensch durch keine Sprache ausdriicken, was 
ich dann singend fiihle! 

Kinder! habt ihr wohl schon einen traurigen, recht tief be- 
triibten Menschen singen horen? Wenn ihr's itzt einmal hort, 
so gebt nur Achtung, wie er in den traurigsten Tonen, mit 
dumpfer, klagender Stimme anf angt, nach und nach sanfter, 
ruhiger wird und mit hellerer, trostender Stimme endigt. 
Kinder, lieben Kinder! ich hatte eine herzlich gute, liebe Mut- 
ter, es war eine vortreffliche Frau, die oft, sehr oft auf ihren 
Knien zu Gott betete, daB er ihr Kraft und Weisheit geben 
wolle, ihre Kinder zu niitzlichen, glucklichen Menschen zu 

erziehen, die mich innigst liebte, die ich nie ach Kinder, 

Tranen, heiBe Tranen hemmen meine Worte bei jedem Ge- 
danken an ihr! — Vor zehn Jahren verlor ich sie; es war eine 
schreckliche, traurige Nacht! Ich konnte fur Betriibnis nicht 
reden, nicht weinen. Immer sah ich sie vor mir: bald, wie sie 
liebevoll mit uns im Felde, im Walde wandelte und uns auf 
jede Schonheit der Natur aufmerksam machte, uns in jedem 
Bliimchen, in jedem Wiirmchen die Herrlichkeit und Gute 
Gottes anschaulicher machte. Und wie sie dann oft mit Ent- 
ziicken ihr Auge zum Himmel erhob, daB wir die Gegenwart 
Gottes in ihren Augen lasen und mit ihr frohe, hoffnungs- 
volle Blicke in die selige Ewigkeit taten. Und wie wir dann 
die Wahrheit ihrer Worte tief fuhlten, wenn sie so, nach 
langem Schweigen mit seligem Entziicken, den Himmel im 

118 



Auge, ausbrach: >Kinder, lieben Kinder, nur Bewufltsein sei- 
ner Unschuld macht gliicklich! wissen, daj3 man sich mit gan- 
zer Seele bestrebte, Gott, den guten, liebevollen Voter, recht 
zu kennen, ihn dankbarlichst zu lieben, daj3 man sich bestreb- 
te, seine Pflicht zu kennen, zu lieben, auszuiiben, das allein 
macht gliicklich! —< 

So sah ich sie immer vor mir. Ich konnte in meinem Hause, 
wo sie starb, nicht ausdauern: Bei Anbruch des Tages ging 
ich aufs Feld, wo ich sonst an ihrer Seite wandelte. — Es war 
der letzte Tag im Jahr. — Ich sah alle Wiesen, alle Felder mit 
Schnee bedeckt, alle Baume erstorben und fiihlte tiefer mei- 
nen Verlust. Ich konnte nicht reden, nicht weinen. Ohne daB 
ich drauf merkte, nahm ich meinen Weg nach dem nachsten 
Dorf zu einem alten Schafer, den wir sonst oft zusammen 
besuchten. 

Ich war schon im Hause, da ich erst auf meinen Weg zu 
merken anfing, wollte umkehren, die Alten liefien mich aber 
nicht. Auch die Knaben aus dem Hause und von den Nach- 
baren umringten mich und verlangten, ich sollte mich mit 
einem Liede, so ihnen der Schulmeister zum morgenden Neu- 
jahrstage gelehrt, zum Neuen Jahr ansingen lassen. Sowenig 
Anteil ich auch an ihrer Freude nehmen konnte, so vermocht' 
ich doch nicht, sie darinnen zu storen. Ich setzte mich still - 
schweigend hin, und sie ordneten sich um mich herum. 

Wahrenddessen blickte ich in ein geschriebenes Liederbuch, 
wo das Lied, was sie eben anstimmen wollten, auf geschlagen 
war. Ich las es, ohne zu wissen, was ich las. Ich las es noch 
einmal, verstand wohl die Worte, fiihlte aber nichts dabei, 
die letzte Strophe erinnere ich mich noch. Sie hieB : 

Drum sei, o Mensch, mit deinem Gott zufrieden, 

Wenn er gleich Trauertage schickt ; 

Er hat dir schon die Stund beschieden, 

Da dir die Freudensonne blickt. 

119 



Die Knaben sangen iiber alle Erwartung rein und ange- 
nehm.'Ich fiihlte mich ^yirklich geriihrt. Was mich erst so 
schwer driickte, so angstlich preBte, fing sich an in mir zu 
bewegen. Ich fiihlte Wehmut, hiefi sie noch einmal singen 
und fiihlte Tranen mein Auge fiillen, dann sanft die Backen 
hinabrollen; und da das Lied zum andernmal zu Ende war, 
fing ich selbst die letzte Strophe noch einmal an, und alle 
stimmten, frohlich iiber meinen Anteil, nait hellerer Stimme 
mit an. Nie werd' ich den Augenblick vergessen! 

Nun konnt' ich den guten alten Leuten, die mich erst ver- 
geblich iiber meine Traurigkeit befragt, mein Ungliick er- 
zahlen und in ihren Tranen Erleichterung finden. Nun konnt' 
ich beim Rtickwege in meinem Herzen mir zuruf en : >Ich wer- 
de diese erstorbenen Felder und Wiesen wieder bliihen sehn : 
Ich werde sie wiedersehn, die Teure, die innigst Geliebte. — 

Seht, Kinder, solche Gewalt hat der Gesang iiber das mensch- 
liche Herz.« — 

Hermenfried hatte von seinem siebenten Jahre an auBer- 
ordentliche Neigung zur Musik gezeigt und spielte in seinem 
neunten Jahre, mit sehr geringer Anweisung, meistens aus 
eigenem Betrieb und FleiB recht artig auf dem Klavier. Den 
Eltern machte das viel Vergniigen. Beim Knaben nahm die 
Neigung immer mehr zu ; er fing an, Spiele und Spaziergange 
iibers Klavierspielen zu versaumen. 

Der Vater befiirchtete, es stecke Eitelkeit dahinter; denn 
die Mutter lieB ihn, wenn Besuch kam, oft spielen, und da 
fehlt' es dann nicht an Lob. Nun aber haBte der Vater keinen 
Fehler in der Erziehung mehr als die leidige Eitelkeit, die uns 
so alles fiir andere, fur den Schein tun laBt, nichts fiir uns 
selbst, fiir die Sache selbst ; und bat daher den Lehrer, seinem 
Pflegesohn, dem Knaben, solche schwere Stiicke zu geben, mit 
denen er nicht so ganz fertig wiirde, um sich damit zu pro- 
duzieren, die auch nicht soviel Reiz fiir die Weiber hatten. 

120 



Das geschah; er gab ihm keine andere Stiicke als die schwer- 
ste von Sebastian Bach und Handel. 

Dies Hindernis aber, so den Knaben abschrecken sollte, war 
ihm Veranlassung zur Entwickelung. Nun fiel er ganz drauf, 
lieB nicht Nacht, nicht Tag ab, bis er des schwersten Stiicks 
Meister war. 

Der Vater verabredete mit der Mutter, ihn nie spielen zu 
lassen, wenn Fremde da waren. Der Knabe fuhr aber, ohne 
darauf zu merken, mit unermiidetem Eif er fort. Alles iibrige, 
wozu er angehalten wurde, machte er schnell iiber die Hand 
weg, urn nur wieder zum Klavier zu kommen. Er fing auch 
an, fur sich zu komponieren, ohne irgendeinem das geringste 
davon zu sagen oder zu zeigen. Eine Sonate, wie er sie iiber - 
schrieben — es war mehr freie Phantasie — , die der Lehrer 
einmal unter dem Kopfkiissen des Knaben liegen fand, ver- 
riet ihn. Sie hatte alle Eehler der Harmonie und des Rhyth- 
mus, auch der musikalischen Orthographie, aber im Gesange 
waren keine geborgten Gedanken oder nachgeahmte Schon- 
heiten: Es war wirklich eigene Fpntasie, eignes Gefiihl drin- 
nen. 

Dariiber sprach der Lehrer ernstlich mit dem Vater. Nach 
einiger Uberlegung sagte dieser: »Ich bin's sehr zufrieden, 
daB er Tonkiinstler werde, wenn Sie glauben, daB er kein 
gewohnlicher Handlanger in der Kunst bleiben, sondern ein 
wahrer Kiinstler werden wird. Wir haben aber vielleicht dar- 
innen gefehlt, daB wir ihm zu zeitig mit dem Klaviere be- 
schaftigt, zuerst im Klavier einigen Unterricht gegeben, eh 7 
er noch fur andre Wissenschaften konnte Liebe gewonnen 
haben. Lassen Sie uns eine Probe machen. Ich will ihm mei- 
nen Unwillen iiber seine Vernachlassigung andrer Wissen- 
schaften zeigen und ihm das Klavierspielen ganz untersagen, 
ihm sein Klavier fortnehmen. Dann wollen wir ihn mit alien 
Kiinsten der Anlockung zum Zeichnen hinziehen. Zeigt sich's, 

121 



daB ihm dieses den Verlust nicht ersetzt, daB er auszeichnen- 
des Genie fur Musik hat, wohl, so mag er Musiker werden. 
Damit aber auf den Fall, daB dieses das Ende ist, nichts ver- 
saumt werde, wollen wir ihn wahrend der Zeit unter den ub- 
rigen Wissenschaften vorziiglich zur Mathematik anhalten.« 

Der Knabe war nur zwolf Jahr alt und spielte die schwer- 
sten Klaviersachen von Sebastian Bach und von Handel: 
wollte auch nichts anders mehr spielen. Seine eignen, inge- 
heim komponierte Sachen spielte er auch nur in seinem ver-' 
schloBnen Zinamer, kein Zureden konnt' ihn bewegen, sie 
einem andern vorzuspielen. Eben saB er am Elavier, da der 
Vater zu ihm ins Zimmer trat. Der Lehrer war mit den an- 
dern Kindern spazierengegangen. 

Vater: Du hier, lieber Franz? Warum bist du nicht mit den 
andern auf'm Felde? 

Franz: Lieber Vater, das Klavierspielen macht mir mehr 
Vergniigen; ich habe da eben eine neue Bachische Fuge be- 
kommen. 

Vater (nach einer kleinen Pause, wahrenddessen der Junge 
ungeduldig vom Vater zum Klavier und wieder zum Vater 
geht, als wollt' er gern allein sein) : Hor nur, lieber Junge, ich 
muB dir etwas sagen, was dich kranken wird. Es tut mirwahr- 
lich leid, aber ich muB es dir sagen. Du versaumst iiber das 
Klavierspielen alien andern Unterricht, selbst deine Gesund- 
heit. Deine Ausarbeitungen im Schreiben, Rechnen, in der 
Mathematik sind hochst fliichtig und unvollkommen, und 
wann die andern ordentliche Spaziergange machen, sitzest 
du beim Klavier oder beim Notenpult, und dann lauf st du wie- 
der, una das einzuholen, allein und spornstreichs nach dem 
Plauenschen Grunde. Du treibst das, was dir zum Vergniigen 
vergonnt wurde, zum Nachteil des Niitzlichern, von dem du 
einmal wirst leben miissen. Oder glaubst du wohl, von dem 
Klavier kxinftig dein Brot zu haben? 

122 



Franz: Wieso, lieber Vater? 

Voter; Ja, mein Lieber, die Zeit kommt heran, da du dich 
zu irgendeinem Gewerbe bestimmen muBt, urn deinen Be- 
schaftigungen eine gewisse bestimmte Richtung zu geben. 

Franz; Die Musik kaim mir doch niemals schaden. 

Vater; Nein, das nicht, wenn du sie maBig treibst, ihr nicht 
mehr Zeit widmest, als dir ernsthaftere Studien ubriglassen. 
Oder du miiBtest dich ihr ganz widmen, miiBtest Musiker 
werden wollen. 

Franz; Lieber Vater — wirklich — nein, daran hab 7 ich noch 
nicht gedacht. 

Vater \ Nun dann, mein Lieber, dann muBt du itzt das 
Klavierspielen ganz lassen. Du kenn'st deinen Fehler, daB du 
dich in nichts so leicht maBigen kannst, aber wohl, wenn du's 
dir ernstlich vorsetzest, es ganz unterlassen kannst. Du weiBt, 
wie oft du selbst bei Spielen und bei Speisen und Getranken 
diese Bemerkung bestatiget hast; also laB das Klavier nun 
ganz. 

Franz (den Vater heftig bei der Hand ergreif end und das 
Klavier mit Sehnsucht anblickend): Lieber Vater! (Die Tra- 
nen steigen ihm in die Augen.) 

Vater; Glaub mir, lieber Junge, es ist mir so schwer gewor- 
den, dir das zu sagen, aber ich muBte. 

Franz (starr das Klavier anblickend und die Hand des 
Vaters kalt haltend, als wollt' er sie gehn lassen). 

Voter; Komm in den Garten, Lieber! Deine Mutter weinte 
erst driiber, daB sie dich so wenig zu sehen bekommt, daB du 
mehr am Klavier als an uns hangst. 

Franz (ergreif t wieder die ganze Hand des Vaters, driickt 
sie mit beiden Handen und geht willig mit). 

Nun wurd' ihm das Klavier ganz genommen. Alle Ver- 
suche, ihm das Zeichnen ebenso angenehm zu machen, miB- 
langen: Er trieb's wie alles ubrige, weil die Eltern Freude 

125 



dran hatten. Auf einmal ergriff er aber die Mathematik mit 
Eifer. Er hatte einst von^einem Mathematiker gehort, der, 
ohne die Musik erlernt zu haben, musikalische Stiicke kompo- 
nierte. Das fiel ihm einmal in der Nacht em: Er sprang auf, 
nahm das mathematische Lehrbuch vor sich, als wollt' er die 
Nacht noch die ganze Wissenschaft verschlingen, und seit der 
Zeit trieb er's mit groBem Eifer. 

Einen Morgen kommt er zum Vater und bittet ihn instan- 
digst, er mocht' ihm doch oben eine kleine Dachstube, die voll 
altem Hausgerat lag, fur ihn allein geben, um so ganz un- 
gestort studieren zu konnen; er wollt' all die Sachen, die da 
lagen, auf eine Seite raumen und sich mit der andern Seite 
behelfen. Der Vater gab ihm das zu, ohn' einen Augenblick 
die Absicht des Knaben zu ahnden. 

Es lag aber in dieser Kammer ein alter Klavierkasten, dem 
der Resonanzboden, viele Tasten und alle Saiten fehlten. Die- 
sen fing der Knabe an, des Nachts, wenn alles schlief , instand 
zu setzen, und brachte es in einigen Monaten dahin, daB er, 
so schlecht es auch klang, drauf spielen konnte. Das war eine 
Freude! 

Seine blasse Gesichtsf arbe verriet bald sein nachtliches Auf - 
sitzen, und der Vater beschloB, ihn einmal in der Nacht zu 
uberraschen. Das geschah, und er fand ihn am Klavier sitzen, 
das am Tage unter dem Bette zu stehn pflegte. Ein ganz un- 
erwarteter Anblick fiir den Vater. Er stand in sehr gemischter 
Empfindung da, verbarg seinen auflodernden Unwillen liber 
den, der ihm heimlich mit einem Klavier versehen, und f ragte 
den stumm und starr dasitzenden Knaben, von wem er das 
Klavier habe. Der Knabe erzahlt treu die Geschichte. Und 
nun der Vater das mit unbeschreiblicher Miihe und vieler 
Klugheit zusammengeflickte Instrument siehet, kann er seine 
Freude nicht bergen ; er f allt dem Knaben um den Hals und 
sagt : »Du hast geivdhlt? — es sei!« 
124 



Nun wurde Musik ernstliches Studium des Knaben: Er be- 
kam griindlichen Unterricht im GeneralbaB und Singen, ging 
dabei taglich zwei Stunden zu einem groBen Meister — auch 
diesen darf ich nicht nennen — , der ihn mit den Werken der 
besten alten und neuern Komponisten bekannt machte, ihn 
auf den Charakter des Werks, auf die Anordnung im Gan- 
zen und auf die besondern Schonheiten aufmerksam machte. 
Gelegentlich auch bei den Beispielen die Regeln, ihre Ent- 
stehung und Einschrankung beriihrte, dabei seine Lektiire 
iiber die Geschichte der Musik leitete und dann zuletzt die 
beste theoretische Anleitung zur Musik mit ihm durchging. 

Dann lieB er ihn eigene Ausarbeitungen machen, bei de- 
nen er sich an keine gewisse Form binden mufite, sondern sei- 
ner eignen Fantasie und Empfindung folgen. Diese korre- 
gierte er ihm nicht so gewohnlicherweise mit Ausstreichen 
und Hineinschreiben, sondern sie sprachen dariiber, und das 
hatte dann EinfluB auf kiinftige Arbeiten. Er schrieb viel 
und mit groBer Leichtigkeit, lieB aber sehr wenig an andre 
sehen und horen. 

Dabei vernachlassigte er die iibrigen Wissenschaften nicht, 
die er itzt aus eignem Antriebe mit mehrerm Anteil betrieb. 
In die Stelle der lateinischen Sprache, in der er seinen Virgil 
ganz gut las, trat nun die italienische Sprache. Diese wurde 
ihm desto notwendiger, da er sich sehr zur Singekomposition 
hinneigte. Auch lag ihm die Poesie sehr am Herzen. Dichter 
waren seine liebste Lektiire. Und oft begeisterte ihn die Muse 
selbst. Wer war wohl seine Muse? 

Der Vater hatte ein wochentliches, sehr wohl besetztes 
Konzert veranstaltet, worinnen die besten musikalischen 
Stiicke zur Bildung des Sohnes aufgefiihrt wurden; dieser 
nahm selbst viel Anteil dran und dirigierte bald manches 
Stuck selbst. Es wurden Stiicke von sehr verschiedenen Zei- 
ten, verschiedenen Geschmacks und Werts nebeneinander 

125 



aufgefiihrt. Dieses Konzert wurde abwechselnd in des Vaters 
Hause tind in dem Hause jeines alten Freundes gehalten. Der 
hatte eine Tochter, die aueh auBerordentliches Genie zur Mu- 
sik hatte, sehr gut das Klavier spielte und nach Unterricht im 
Singen von unserm Hermenfried gar sehr verlangte. 

Gerne verriet ich's Ihnen, meine Schonen, wie ein Jung- 
ling, edel, empfindsam und gut, seinem reizenden, zartlichen 
Madchen Gesang lehrte und mit dem Gesang die Liebe. Oder 
soil ich aufrichtig sein? Wie das Madchen ihm Liebe und 
Lieder singen lehrte und sich's dann, als Madchen, unter tau- 
send zartlichen Bestrafungen wieder lehren lieB. Treu sollte 
meine Erzahlung sein, denn ich habe das zartliche Paar so 
sehr belauscht, daB mir kein Ton, kein KuB verlorenging. 

Auch sollten mir Ihre Verehrer danken, wenn ich's ihnen 
verriet, wie sie selbst die vollkommensten Singemeister wer- 
den konnten, und sollten mir's nicht miBgonnen, wenn ich 
mit tausend Kxissen dafiir belohnet wurde. 

Ich darf mich aber nicht auf die besondere Geschichte die- 
ses lieben, edeln Paars so ganz einlassen. Sie wissen nicht, was 
mir ein tadlender, unzufriedner Blick von diesen lieben, herr- 
lichen Menschen ist! 

Auch mocht' ich dadurch meine Reisenden auf einem so 
kurzen Wege von Danzig nach Warschau gar zu lange unter- 
wegs lass en. 

Es soil einst das angenehmste Geschaft meines Lebens sein, 
Ihnen das hochst interessante Kiinstler- und Menschenleben 
meines teuern,innigst geliebten Herrnenfrieds ganz zu erzah- 
len; und es geschieht, sobald er und sein trautes Weib drin 
willigt. 

Doch ich will Ihnen hier wenigstens die Geschichte der er- 
sten Singestunde erzahlen. Dawider kann er unmoglich etwas 
haben; denn wir erkennen uns sicher ebensogut darinnen als 
ihn. 

126 



Henriette war Meisterin im Klavier, und soviel zur besten 
Erziehung gehort, hatte sie auch singen gelernt, das heiBt, 
sie sang richtig und rein. Sie sollte oder vielmehr sie wollte 
auch gerne schon singen lernen: wollte das gern von Hermen- 
fried lernen. Den hatte sie lieb, und er hatte sie lieb. Das 
schlaue Madchen wuJBte beides: Hermenfried glaubte weder 
eines noch das andre. 

Dieser unerf ahrne Liebhaber nun, der bisher nur das Gliick 
gehabt hatte, dem Heben Madchen bei Konzerten das Blatt 
umzuwenden — womit er immer so lange zogerte, bis sie selbst 
nach dem Blatt griff, um.ihre schone Hand zu beriihren, die 
denn am Ende zum tausendfachen Dank fur ihren Dank sei- 
ner Bemuhung wegen herzlich gekuBt wurde — Hermenfried 
erhielt den erwunschten Auftrag, die reizende Henriette im 
Singen zu unterrichten. 

Er erschien den nachsten Morgen — es war der erste schone 
Maimorgen — und fand das Madchen im weiBen Morgen- 
kleide, eine vom Taue noch traufelnde Rosenknospe am ver- 
schleierten Busen, die im Begriff war, ihr in den SchoB zu 
fallen — So fand er sie am Klavier, wie sie eine Handelische 
Sonate spielte. Sie sah ihn nicht kommen. 

Nun war bei ihm ein Handelisches Stuck zu alien Stunden 
schon hinlanglich, ihn aus der geziemenden Falte zu bringen, 
die die gute Lebensart so kliiglich eingefiihrt hat, um unsere 
wahre Lage zu verhehlen, denn ich habe ihn bei Handelischen 
Sachen so hingerissen gesehn, daB er alles um sich herum ver- 
gaB, fur Wollust schrie und mit den FiiBen stampfte. 

Zu seinem Ungliick spielte sie noch dazu das allerliebste 
naive Allegretto in f mit Variationen. — Das Madchen ver- 
stand den Putz! — 

Hatte er sich nun ganz seiner Empfindung — die schon vor 
dem Eintritt ins Zimmer genugsam vorbereitet war, aufs 
hochste zu steigen — iiberlassen sollen, so hatte er auf das 

127 



Madchen zulauf en und sein gliihendes Gesicht, seine wollust- 
volle Tranen in ihrem SchoBe verbergen miissen. Dann war 7 
ihm die betaute Rose in den Nacken gefallen. Nun aber fiel 
sie in dem Augenblick, da er gewahr wurde, dafi die Mutter 
im Zimmer war, die ihn wiirklich noch nicht gesehen, dem 
Madchen auf die schone Hand. Denn das Madchen hatte sich 
bei dem empfindungsvollen Gesang im zweiten Teil des Alle- 
grettos sanft iibergebogen. 

Durch den Fall der Rose unterbrochen, machte sie eine 
laute Bewegung. Die Mutter sah auf, und das gliihende Ge- 
sicht des Jiinglings iiberzog Totenblasse. Er stotterte der Mut- 
ter ein Kompliment, vergaB — voll Begierde, die schone Hand 
der Tochter zu kiissen — , die Hand der Mutter mit demKinne zu 
beriihren, und dariiber durft 7 er's hernach nicht wagen, seine 
zitternden Lippen in die weiche Hand des Madchens zu driicken. 

Das Madchen sah seine Bestiirzung, sah, wie er seine To- 
tenblasse fiihlte, sich schon zum andernmal das Gesicht rieb, 
und sagte ihm mit sanftem Lacheln: »Sie sind ja heute ein 
wahres Bild des Friihlings.« Er wurde wie mit Blut begossen, 
denn er merkt' es nicht gleich, daB das lose Madchen auf sei- 
nen griinen Rock, mit Rosenrot aufgeschlagen, deutete. 

Man bat ihn, sich zu setzen. Er eilte, den Stuhl des Mad- 
chens zu ergreifen, und dachte vielleicht weniger dabei, als 
Sie jetzt schon gedacht haben, meine Schonen. Er glaubte aber 
die ganze Kraft der Elektrizitat zu f iihlen. Das Madchen war 
itzt zum Spiegel gegangen, der ihm gegenuberhing, um die 
Rose wieder im Busen halb zu verstecken. 

Mutter: Und Sie wollen die Muhe liber sich nehmen, mein 
lieber Musje ***, meine Tochter Henriette im Singen zu un- 
terrichten? 

Hermenfried; Oh! — — (Weil er nicht sagen durfte ? das 
wird das Gliick meines Lebens machen, so konnt' er gar nichts 
sagen.) 
128 



Mutter: Freilich, ich sell' es sehr wohl ein, wie beschwer- 
lich es fur Ihre feinen Ohren sein mufi. 

Hermenfried: O Madam! 

Mutter; Siehst du, Henriette , ich hab's dir wohl gesagt, daB 
Musje *** Schwierigkeit machen wiirde. 

Henriette: Ei,liebe Mutter, ich glaube, der Herr *** macht 
es nur wie die Herren Arzte, die oft, urn groBers Verdienst urn 
den Patienten zu haben, die Krankheit im Anfange viel ge- 
f ahrlicher machen, als sie ist, und 

Hermenfried: Verzeihen Sie, Mademoiselle — 

Henriette: So? Zweifeln Sie denn daran, daB ich eine reine 
Stimme habe? Ich will Ihnen gleich die Skala vorsingen. 

Drauf ging sie ans Klavier und sang c, d, e, f , g, a, h, c. 

Die Mutter gab ihm, indem sie den Kaffee bestellen ging, 
einen vertrauten Wink, als wenn sie sagen wollte: >Ihre Mun- 
terkeit wird Ihnen die Miihe erleichtern.< 

Er argerte sich iiber den MiBverstand und sah's nicht ein 
wie das schlaue Madchen, daB ihm die Szene viel Nutzen bei 
der Mutter schaff en wiirde. 

Nun wurde iiber die boshafte Art, den MiBverstand zu un- 
terstiitzen, iiber die gottliche Stimme und wie ein Himmel 
voll Seligkeiten in dem Gedanken lage, das schonste Madchen 

taglich zu sehen, zu horen gesprochen? — nein, gedacht 

und empfunden. Denn er konnte iiber all das, was er gern sa- 
gen wollte, keine Silbe hervorbringen ! 

Das schlaue Madchen wiederholte indessen immer: c, d, e, 
f , g, a, h, c, hielt bei jeder Oktave etwas inne und sah ihn an. 
Und just dann hatte er immer schon die Worte auf der Zunge, 
hatte sie ihn nur nicht angesehn! Endlich fiel er ihr bei e ins 
Wort und stammelte: »Ich bin — der — Gliicklichste « 

Mutter (ihn beim Armel zupf end) : Nehmen Sie doch eine 
Tasse Kaffee. 

Hermenfried (auf f ahrend) : Ich trinke nie Kaffee. 

129 



Mutter: Ei, ich habe geglaubt, Sie tranken ihn fiinf- bis 
sechsmal des Tages, wennVdrauf ankame? 

Hermenfried: Bei soldier Hitze, wollt' ich nur sagen, trink 
ich ihn nie. 

Mutter; Ei, ei! Haben Sie jetzt schon soviel Hitze, wie 
wird's dann im August werden. 

(Sei ruhig, gute Mutter, dann wird er sich schon zu kiih- 
len wissen. Dann kann deine Tochter, die jetzt blaB dasteht 
und zittert, schon singen : >Wle kann ich dich zu zdrtlich lie- 
ben, du tester J tingling !<) 

Nun notigte die Mutter die Tochter, etwas auf dem Klavier 
zu spielen. Sie wollt' ihm eine kleine Schmeichelei machen 
und nahm ein Stuck von seiner eignen Arbeit. Nun aber wa- 
ren unter den vielen Stuck en, die er* selbst gemacht hatte, doch 
nur sehr wenige, die ihm selbst intressierten, und er hatte 
also Zeit, sich wahrend des Stiicks von all den beunruhigen- 
den Dingen, die so auf ihn losgestiirmt und seine natiirliche 
Dreistigkeit fast erliegen gemacht hatten, zu erholen. 

Das Stuck war vorbei. Ein Bravo mit dem andern erwidert 
und beide von der Mutter belachelt. Denn fur eine alte Mut- 
ter gibt es keinen erfreulichern Anblick, als wenn ihre rei- 
zende Tochter gefallt; sie lebt in dem Augenblick ganz in die 
Seele ihrer Tochter, sie macht die Eroberung selbst. Daher 
lieben die Mutter auch ihr Ebenbild so sehr an ihren Toch- 
tern und lassen dem Vater lieber seine Sicherheit in den Ge- 
sichtern der Sohne finden. Daher kann eine Mutter sich so 
entriisten, wenn eine ihr ahnliche Tochter einen Mann liebt, 
der der Mutter nicht gefallt. Eine Tochter, die keine Ahnlich- 
keit mit der Mutter hat, wird viel leichter diese Einwilligung 
zu einer solchen Lieb' erhalten. 

Nun zog Hermenfried einen kleinen Aufsatz hervor, wor- 
auf die bekannte Solmisation der Italiener, eine bessere, be- 
quemere Benennung der Tone von einem neuern Singemeister 

130 



und seine eigne Grille zum Behuf der deutschen Sprache ge- 
schrieben stand. 

Er sagte ihr, wie die verschiedenen Unbequemlichkeiten 
der italienischen Solmisation des Guido von Arezzo — und von 
den Franzosen schon verbesserten — diese bessere neue Benen- 
nung der Tone hervorgebracht. Wie er aber glaubte, daJ3 man 
fur die deutsche Sprache, die jedem Sanger weit schwerer 
beim Singen wird als die italienische und lateinische und die 
man so selten gut und verstandlich von Sangern aussprechen 
hort, noch auBer dem Solfeggieren — so zur Festigkeit und 
Sicherheit der Kehle, zur Reinigkeit und Gleichheit der 
Stimme und selbst zur Starke und Dauer der Brust und 
Stimme vorgenommen wird — ganz besondere Ubungen vor- 
nehmen miiBte, urn den Sanger an die haufig aufeinanderf ol- 
genden Konsonanten und der haufigen Diphthongen in der 
deutschen Sprache zu gewohnen. 

Es ist nicht genug, daB die Worte mit gehauften Konso- 
nanten deutlich und verstandlich ausgesprochen werden — 
welches im Singen schon schwer ist und nicht gar oft gehort 
wird — , sie mussen auch so ausgesprochen werden, daB der 
Gesang so wenig als moglich unterbrochen wird. 

Etwas geschiehet dieses auch bei der besten und kiinstlich- 
sten Aussprache, und dieses ist es hauptsachlich, was unsre 
Sprache zum Singen unbequemer macht als die italienische. 

Er schlug daher vor, die Tone zuweilen in den einsamen 
Ubungen mit den schwersten und hartesten deutschen Worten 
zu benennen, zum Beispiel Scherz, Zwang, Schuld, Angst, 
Schwulst, Schreck u. a. m. und sich nun erst bei ganzen langen 
Noten zu bemiihen, die vor dem Vokal stehenden harten Kon- 
sonanten so schnell und leicht als moglich auszusprechen, da- 
mit das vorhergehende notwendige Zischen, ehe die erste Silbe 
gehort wird, so kurz und so wenig als moglich gehort werde. 

Ebenso riet er, die nachfolgenden Konsonanten halb zu 

131 



verschlucken, wo es die Deutlichkeit der Aussprache nur ir- 
gend erlaubt, wenigstens sie auf den Lippen absterben zu las- 
sen. Es sei denn, daB das drauf f olgende Wort sich mit einem 
Vokal anfange, welches die mehresten unserer musikalischen 
Dichter aber eh zu vermeiden als zu suehen scheinen. 

Ebenso riet er besondere "CTbungen fiir die haufigen Diph- 
thongen unsrer Sprache. Die Trennung der Vokale, die man- 
che billigen, wollt' er indessen der Deutlichkeit der Aus- 
sprache wegen nicht anraten. 

Hiebei riigte er auch den Fehler, daB in den mehresten 
Provinzen Deutschlands das st wie scht ausgesprochen wurde; 
statt stark: schtark, welches im Singen ein doppelter Fehler 
ist, da das scht ein langeres und starkeres Zischen verursacht 
als das st. 

Der Fehler hingegen in den mehresten Provinzen Deutsch- 
lands, das u wie i und das o wie e auszusprechen, wird im Sin- 
gen zum Vorteil, da bei u und o der Mund geschlossen wird 
und dieses wider die erste Regel des Gesanges ist, mit offenem 
Munde zu singen-^ denn ohne die vollige Offnung des Mundes 
kann der Ton nicht rein und klar hervorgebracht werden. 
Und was noch wichtiger ist, meine Schonen ! ohne die Offnung 
des Mundes sieht man nicht Ihre glanzenden, elfenbeinernen 
Zahne, und den schonen roten Gaum, und die schone Zunge. 

Sagte das auch der liebebebende Jiingling seinem holden 
Madchen ? Mit dem Munde wenigstens nicht. 

H enriett eversuchte jeneBenennung mit den schwer auszu- 
sprechenden Worten, und es fiel ihr, der Ungewohnheit we- 
gen, sehr ins Lachen. 

»Wir wollen's uns leichter machen«, sagte Hermenfried, 
»ich will Ihnen einen Vers, der viele solche harte Worte hat, 
in Musik setzen; dann wollen wir den zur tlbung singen. « Er 
ergriff die Feder und schrieb : 



132 



Zwischen Furcht und zwischen Hoff en 
Schwankt mein liebebebend Herz. 
Jeder Freude war es off en, 
Jetzo jedem Schmerz. 

Und doch lieb ich meine Schmerzen 
Mehr als jener Freuden Spiel: 
Alles bist du meinem Herzen, 
Seliges Gefiihl! 

Er schrieb zugleich eine Melodie dazu nieder und sang sie 
vor. Aber wie? bebend, atemlos. Auch dem Madchen bebte das 
Herz. Hatt' er's nur gewagt, sie beim Singen anzusehen! 
Wie's zu Ende war, sah er sie mit halben Blick an, und es 
uberfiel ihm, als wenn sie lachelte und weinte. 

Sie tadelte an dem Liede, daB er's aus f -Moll gesetzt hatte, 
da er doch wiiBte, daB sie den Ton gar nicht horen konnte, 
ohne bis zu Tranen geriihrt zu werden. Sie wiird' es des Tons 
wegen nicht zur Ubung singen konnen. Das tat ihra sehr leid : 
er wollt's wieder einstecken. Sie bat ihn aber, es ihr zu lassen, 
nahm's und legt' es in ihre Brieftasche. Das war ihm nun sehr 
lieb. Er versprach ihr, den nachsten Morgen ein ander Lied 
zu bringen. »Oh, das setzen Sie doch in Es-Dur!« Das war 
ihr beider Lieblingston. 

Er ergriff den Hut. Und wie ihm nun, auf das Madchen zu- 
gehend, das Herz immer machtiger schlagt, sich nach einem 
Liebeszeichen, nach einem sanften Druck der Hand sehnt! In 
ihren Augen fand er Hoffnung. Mit Zittern ergreift er die 
schone Hand: Sie bebt und sagt ja. 

Doch ich muB abbrechen. Wie schwer es mir wird, die in- 
nige Liebe der Edlen kaum beruhrt zu haben: nicht ausmalen 
zu diirf en, wie sie mit jedem Morgen wachst, immer tiefer ins 
Herz sich grabt; wie sie die paradiesisch schone Natur um sie 
herum zum Himmel ihnen macht ; wie sie sich unzertrennlich 

133 



fiihlen und sich trennen miissen; wie ihnen da das hochste 
Geschenk des Himmek zu unaussprechlicher Marter wird; 
wie das liebe, treue Madchen nun die langen Nachte durch- 
weint; er von ihr entfernt, lange alles, was sie nicht ist, was 
sie nicht wenigstens einen Augenblick sein kann, anekelt, an- 
speit, an alles, was nur einigermaBen sich ihr naht, mit Sehn- 
sucht, mit brennender Begierde sich hangt und sich so in der 
groBten Reinigkeit seines Herzens Leiden, unaussprechliche 
Leiden bereitet, die all seine Tugend, all seine Starke zu 
machtigen Kampfen auffordern, denen er fast erliegt, durch 
Beharrlichkeit, Gewalt uber sich selbst endlich den Sieg er- 
halt und mit unbescholtenen Armen sein treues, liebes Mad- 
chen wieder umf aBt und ihre Tranen mit Liebe trocknet. 

Kann und darf ich auch gleich das alles nicht so malen, wie 
es im Innersten meiner Seele flammt, so versprech ich doch 
meinen Lesern, ihnen recht bald Lieder zu geben, die Her- 
menfried in dieser gliicklichen und ungliicklichen Liebeszeit 
gedichtet, die den Zustand seines Herzens treu schildern. 

Hermenfried hatte in seinem zwanzigsten Jahre griind- 
liche Kenntnis der Harmonie und Fertigkeit im Komponie- 
ren. Das Klavier spielte er mit auBerordentlicher Fertigkeit 
und Delikatesse. Er iibersah den Umf ang der Kunst mit schar- 
fem Blick und hatte einen guten, bestimmten Geschmack. 
Aber Erfahrung fehlte ihm noch in ziemlichen Grade. Ich 
meine, Erfahrung als Komponist, zu der Selbstschreiben und 
Durchsehen und Durchstudieren groBer Werke noch nicht ge- 
nug ist. Man weiB, wie unendlich in der Musik Horen vom 
Lesen verschieden ist: wie sehr Studium des Effekts vom Stu- 
dium der Harmonie verschieden ist. 

Zwar hatte er in Dresden viel gute, grofie Musik gehort, 
es war aber denn doch alles zu sehr in einem Geschmack, in 
einem Stil. Dabei lief er Gefahr, sich in die eine Manier so 
hineinzuarbeiten, daB sein Genie dariiber litte. Seine Arbei- 

134 



ten begannen auch bereits ein gewisses steifes, einformiges 
Ansehen zu bekommen: Er fing an, Fiille der Harmonie und 
Genauigkeit des Rhythmus auf Kosten des Gesanges, des Aus- 
drucks zu suchen. 

Sein groBer Meister hatte ihm schon einigemal gesagt: 
»Wenn ich Ihre Stucke nicht horte, blofd sdhe, ivurd' ich sie 
oft fur meine eigne halten.« Darinnen lag es nun eben; das 
Ding sah sich oft trefflich an und klang doch ganz anders. 

Es geht einem jungen Kunstler, der Harmonie studiert und 
nun anfangt, griindlich, fleiBig und korrekt zu arbeiten, wie 
es jedem jungen Menschen zu gehn pflegt, der erst anfangt, 
Bekanntschaft mit groBen, beruhmten Leuten zu machen. Je- 
ner kann nicht voll, nicht gedrungen genug schreiben, um der 
Welt all die erlernten Kiinsteleien so recht vor Augen darzu- 
legen, damit sie ja sahe, was er alles weiB. Dieser spricht von 
den ersten Zusammenkunften mit einem beruhmten Mann, 
dem ersten >Gehorsamer Diener<, so er mit ihm gewechselt, 
ohn' UnterlaB, weiB sich viel damit, den beruhmten Mann 
vom groBen Zeh bis zur kleinen Haarlocke seiner Peril eke zu 
kennen, beschreiben zu konnen. 1st jener aber erst so recht 
mit dem Innern seiner Kunst vertraut, fiihlt er sich — hat die- 
ser jenen groBen Mann erst zu sein em Freunde, fiihlt er sich 
in ihm, so kiimmern sich beide wenig um die Welt, ob sie's 
sieht oder nicht. Genug, er selbst weiB es, fiihlt es, genieBt es. 
Er weiB nun auch, daB viele prahlerische Kiinsteleien nicht 
Kunst sind, daB viele groBberiihmte Manner nicht edle Men- 
schen sind, und geht oft beiden aus dem Wege. 

Der Vater sah jenes ein, wuBte auch, daB an seinem Sohn 
nichts von der guten, moralischen und wissenschaftlichen Er- 
ziehung, die er ihm gegeben, verlorengegangen, daB er ein 
bestimmt guter und aufgeklarter Mensch war, und trug also 
kein Bedenken, ihn reisen zu lassen. Er glaubte, Religion, fur 
die der junge Mann wahres, warmes Gefiihl hatte, natiirlich 

135 



gutes, feines Gefiihl, Einsicht und edle Liebe, die er warm 
im Herzen trug, wiirden ihn fiir Laster bewahren. Und Tor - 
heiten? Fiir deren Vermeidung war der Vater eben nicht 
angstlich besorgt, glaubte aber doch, auch hiervor wiirde ihn 
sein guter, bestimmter Geschmack groBtenteils sichern. 

Von seiner edlen Liebe zu Henrietten wuBte der Vater sehr 
wohl und freute sich in seinem Herzen dariiber, hatte aber 
noch nie mit dem Sohne davon gesprochen. 

Der Vater berechnete genau, was der Sohn zu einer Reise 
durcb Deutscbland und Italien bedurfte, urn sie ohne Auf- 
wand und besondere Bequemlichkeit, aber doch vollig sicber 
fiir Mangel zu macben. Dies bestimmt 9 er ihm zur Reise, da- 
bei equipierte er ihn, nicht prahlerisch, aber gut und anstan- 
dig. 

Sein Segen, den er dem Sohn zur Reise mitgab, war dieser : 

»Hier, mein Sohn, hast du so viel Geld, als du notwendig 
zu deiner Reise brauchst. Whilst du mit mehrerer Bequemlich- 
keit und grojSerem Aufwande reisen, so nimm deine Musik 
zu Hulfe. Verdiene dir so viel, als du auf eine verniinftige und 
anstandige A.rt verdienen kannst. Empfehlungen geb ich dir 
nicht mit, Ich hoffe,dutuirst dich durch deine Auf fiihrung und 
Kunst Freunde genug machen. Sei fleifiig in deiner Kunst, 
nutze jede Gelegenheit zu deiner Vervollkommnung. Lerne 
auch die Welt und die Menschen kennen. Hute dich aber, hiite 
dich, Lieber, sie auf Kosten deiner Gesundheit, deines Her- 
"zens, deiner kiinftigen Gliickseligkeit kennenzulernen. Denke 
stets daran (hier ergriff ihn der Vater zartlich bei der reehten 
Hand), denke stets daran, dafl Gott jede deiner Handlungen 
sieht, daj3 dein Gliick das Gluck deiner dich herzlich liebenden 
Eltern ist, dein Ungliick das ihrige. (Nun ergriff er ihn bei 
beiden Handen und zog ihn sanft zu sich.) Denke daran, mein 
lieber, guter Sohn, daft hier deine HEN BJETTE auf dich 
wartet, daft das gute, liebe Madchen hofft, durch dich einst ein 
136 



gluckliches Weib, eine gliickliche Mutter zu iverden. Gott ge- 
leite dich!« 

Hermenfried fiel sprachlos an den Hals seines Vaters ; beide 
weinten, daB die hellen Tranen in groBen Tropf en uber ihren 
Hals hinrollten. 

Ich darf mich auf seine musikalische Reise nicht besonders 
einlassen, obgleich ich. sein sehr genaues Tagebuch vor mir 
liegen habe. Nur so viel im allgemeinen : 

Er suchte jeden merkwiirdigen Tonkunstler genau kennen- 
zulernen, bat ihn urn die Mitteilung seiner Werke und seiner 
besondern Ideen bei der Arbeit. 

Er suchte jede Gelegenheit auf, Musiken und vor alien 
Dingen gute und groBe Sanger zu horen, versaumte keine 
gute und keine schlechte Musik, gab vorziiglich auf ihre Wir- 
kung acht und zog sich davon Erf ahrungssatze ab. 

Er besuchte die Bibliotheken, urn alte musikalische Schatze 
und zur Aufklarung der Geschichte der Musik dienende Werke 
kennenzulernen. Vorher suchte er aber immer besondere Be- 
kanntschaft mit dem Bibliothekar, urn nicht die edle Zeit mit 
unniitzer Beschauung vieler tausend Biicher hinzuschlendern. 

Er bemiihte sich, die Beschaff enheit guter Orgelwerke und 
anderer Instrumente genau kennenzulernen, ebenso auch die 
Beschaff enheit zur Musik aufgef iihrter Gebaude. 

Da jeder Mensch sah, daB nicht Geldschneiderei oder Prah- 
lerei sein Reisegeschaft war, daB er ein bescheidner und eif rig 
lehrbegieriger junger Kiinstler war, so kamen ihm die besten 
Menschen entgegen, um ihm in seinen Untersuchungen be- 
hiilflich zu sein. 

Der Hof war immer der letzte, warum er sich in einer gro- 
Ben Stadt bekummerte. Indessen wurde er von den meisten 
Hof en selbst auf gesucht und oft, ohne daB er's drauf anlegte, 
sehr ansehnlich beschenkt, so daB der "Wert der auf seiner 
ganzen Reise erhaltnen Geschenke die Kosten seiner Reise 

137 



iibertraf. Er war bei seiner maBigen, bloB Bediirfnis befrie- 
digenden Art zu reisen geblieben und konnte daher das Gliick 
geniefien, die erhaltenen Geschenke zu guten, menschen- 
freundlichen Werken anzuwenden. 

Es wurden ihm auch haufig Dienste angeboten. Er sah aber 
immer, daB seine auBerliche edle Gestalt oder zu hohe Vor- 
stellung von seinen Fahigkeiten oder vornehme Grille den 
groBten Anteil daran hatten, und das war ihm genug, solche 
Anerbietung gradezu auszuschlagen. Er war uberhaupt 
fest entschlossen, sich durch keine besondere Verbindung auf 
seinem Wege aufhalten zu lassen, auch nicht eh eine Stelle 
anzunehmen, als bis er sich selbst zu einer wichtigen Stelle 
f ahig fiihlte. 

Auch verschaffte ihm seine Kunst und sein gutes, edles, off - 
nes Gesicht, dem sein Charakter so ganz entsprach, die ausge- 
breitetste Bekanntschaft mit alien Standen; und er lernte da- 
her in den wenigen Jahren seiner Reise die Welt und sich 
selbst mehr kennen als tausend andere oft in ihrem ganzen 
Leben. 

Je weniger ich von seiner Reise als Kiinstler reden darf , 
desto mehr treibt's mich, von ihm als Mensch zu reden. 

Er sagte oft, wenn vom Vorteil des Reisens die Rede war, 
der groBte Vorteil seiner Reise ware, daB er sich selbst und 
seine Heimat schatzen gelernt hatte. Denn er ward fest iiber- 
zeugt, daB es keinen Himmelsstrich, keinen Winkel der Erde 
gabe, der nicht dem aufmerksamen Beobachter und wahren 
zartlichen Freunde der Natur tausendfache Gegenstande der 
Untersuchung, des Vergnugens und der Bewunderung dar- 
bote. Und welche unzahlige Menge von Merkwiirdigkeiten 
und Schonheiten der Natur f and er nicht bei seiner Ruckkehr 
in seinem Vaterlande, die er in alien durchreiseten Landern 
vergeblich gesucht und vorher in seinem Vaterlande iiber- 
sehen hatte. Ein Fehler der meisten jungen Leute, immer 

138 



nach den entf ernten Landern sich zu sehnen und dariiber ihr 
Vaterland mit alien seinen Vorziigen zu vergessen, wohl gar 
zu verachten. 

Ebenso ward auch Hermenfried im Innersten seiner Seele 
fest uberzeugt, daB es iiberall gute, edle Menschen gabe und 
iiberall nur selten solche himmlisch edle, gottlich erhabne 
Menschenseelen, deren Gemeinschaft und Freundschaft uns 
hier schon einen seligen Vorschmack des Himmels und der 
ewigen Seligkeit gaben, da wir im nahern Anschauen Gottes 
und in dem genauesten, ewig unzertrennlichen Zusammen- 
ketten edler, gleichgestimmter Seelen unaussprechlich, un- 
begreiflich selig sein werden. 

Auch fiihlte er in sich selbst mehr Trieb und Kraft und 
Liebe zum Guten, als er bei vielen in der Feme angebeteten 
Mannern gefunden hatte. Denn nichts hatte ihm auf seinen 
Reisen mehr Krankung, mehr wahre Betriibnis verursacht als 
die traurige und leider so haufige Erfahrung, daB oft die 
groBten Gelehrten, die groBten Kiinstler, selbst oft die eifrig- 
stenTugendlehrer in ihremLeben die elendesten,veraclitlich- 
sten Menschen sind. Man stelle sich seine Bestiirzung, seine 
Beschamung vor, wenn er mit heiBer Begierde, mit fliegenden 
Schritten dem personlichen Anschauen eines Mannes entge- 
geneilte, den er als einen groBen Dichter oder tiefsinnigen 
Weltweisen oder seltnen Kiinstler schon von seinen ersten 
Junglingsjahren an mit tiefer Verehrung, mit innigster Liebe 
gedacht, genannt hatte; vv^enn er nun vor ihm stand und 
hoffte, auf seinem Gesichte edle, gottliche Ruhe der Seelen, 
klareres, freudigeres Anschauen Gottes, reine, feurige Got- 
tesliebe, Menschenliebe, Bruderliebe, bescheidene Zufrieden- 
heit mit sich selbst, edlen Stolz auf Wiirde der Menschheit zu 
sehen, von seinen Lippen zu vernehmen — und dann Tumult, 
Aufruhr, Krieg der Leidenschaften, Verwirrung und Zwei- 
fel, Gewissenlosigkeit, HaB, Neid, Verfolgung, Habsucht, 

139 



kriechende, kindische Eitelkeit sah, horte - o wie verachtlich 
ihm dann die elenden Menschen ohneraclitet all ihres Wis- 
sens, all ihrer Fahigkeit, all ihrer Geschicklichkeit wurden! 
Weit verachtlicher als die ungliicklichen, bejammernswiirdi- 
gen Seelen, die nie AnlaB fanden, sich aus dem Schlamme zu 
erheben, die Fiirstentyrannei und teuflische Politik und 
elende Erziehung in Niedrigkeit und Finsternis niedertreten 
und fesseln oder die durch falsche, dem Schwachen iiber- 
redende Lehre, durch giftige, siiBe Worte ins Verderben ge- 
lockt, gestiirzt und nun im Laster betaubt hintraumen, hin- 
taumeln. — 

Selten, nur selten £and er unter denen in der Ferae als 
Weise, als Dichter, als Kiinstler verehrten, geliebten Mannern 
solche Menschen, die er auch bei naherer Bekcinntschaft als 
Menschen verehren und lieben konnte ; die nicht, wie die mei- 
sten Gelehrten und Kiinstler, nur aus Prahlerei oder Gewinn- 
sucht forschten und schrieben, sondern denen es eifrigst und 
herzlich una die Erforschung und Ausbreitung des wahren 
Guten, wahrhaftig Nutzlichen und edel Vergniigenden zu tun 
war; die nicht nur Gelehrte und Kiinstler waren, sondern 
auch ihre PfLichten als Menschen, Hausvater und Vater lieb- 
ten und erfiillten. 

Und nur sehr wenige, sehr wenige unter den angebeteten 
groBen Mannern hatten das hohe Verdienst, groBer noch als 
Menschen zu sein, als sie es als Gelehrte, Dichter und Kiinst- 
ler waren. Aber welches Entziicken, welche Seligkeit war ihm 
auch der Gedanke an diese wenigen Edlen ! 

Desto mehr wahrhaftig gute und edle und gliickliche Men- 
schen fand er aber unter denen noch unverdorbnen Landleu- 
ten, die in einiger Entfernung von groBen Stadten wohnten. 
Dieses und seine inbriinstige Liebe fur Schonheit der Natur 
verursachte, daB er sich auf seinen Reisen den Fruhling und 
Sommer iiber nur ^wenig in groBen Stadten aufhielt ; die meiste 

140 



Zeit brachte er auf dem Lande zu, welches er dann auch nach 
alien Seiten durchwanderte. Dieses Durchwandern nach alien 
Seiten, um das Land reclit genau und recht viel gute Men- 
schen kennenzulernen, brachte ihn zu dem EntschluB, zu 
FuBe zu reisen, wozu ihn eben seine auBerlichen Umstande 
nicht zwangen. Er hatte auch vorher jede andre Art zu reisen 
versucht, mit Extrapost, mit der gewohnlichen Post, mit 
Fuhrleuten, zu Pferde und zu Wasser. Er fand aber, daB al- 
les dieses weit mehr den Korper angreife und ermude und die 
Seele zum freudigen GenuB des Guten und Schonen unfahi- 
ger niache. 

Auch war es auf keine jener erwahnten Arten zu reisen 
moglich, das Land und die Bewohner so genau kennenzuler- 
nen, als es wohl zu FuBe geschehn konnte. So konnte er jedes 
fruchtbare Feld, jeden groBen und schonen Wald, jedenBusch, 
jedes Tal, jede Anhohe, jeden Berg, jedes Ufer des Stroms, 
jede Quelle ganz kennen und genieBen. Der Landmann na- 
herte sich weit eher dem freundlichen FuB wanderer, wurde 
weit eher vertraut mit ihm: So konnte er bei jedem guten 
Landmann, dem er gern tiefer ins Herz sehen wollte, ohne 
Umstande ubernachten, ohne Umstande wochenlang den seli- 
gen Anblick einer hauslich gliicklichen Familie genieBen, 
tagelang den Arbeiten eines vernunftigen und fleiBigen Land - 
manns beiwohnen, von ihm Bearbeitung des Feldes lernen; 
oder auch ihm durch Mitteilung seiner Bemerkungen und Er- 
fahrungen nutzlich ^vsrerden; durch ihn Kenntnis des Bodens, 
der Landesfriichte und der Landesverfassung erhalten. Und 
was noch uber alles ging: so konnte er, der fur sich sehr ma- 
Big, von Feld- und Gartenfriichten, Brot, Milch und Wasser 
lebte, um soviel mehr, als ihm die kiinstlichere Art zu reisen 
gekostet haben w^iirde, an Ungliickliche, Bediirftige w r ohltun. 

Auch hatte er sich vor seiner Reise bemiiht, den mensch- 
lichen Korper und die wichtigsten und gemeinsten Krankhei- 

141 



ten desselben genau kennenzulernen, um auf seinen Reisen 
dem leidenden, hulflosen Landmanne beizustehn, zu helfen. 

Ich mufi einige die Menschheit interessierende Auftritte 
seiner Reise hier erzahlen. Konnte ich sie, edler, himmlischer 
Freund, konnte ich. sie dir mit derselben Warme, mit der Leb- 
haftigkeit, mit der hinstromenden, riihrenden Sprache des 
Herzens nacherzahlen, mit der du sie meinem Herzen tief 
eingepragt, wann wir dort unter der hohen, heiligen Eiche 
saBen, unter der sich unsere gleichgestimmte, gleichlautende 
Seelen zuerst erkannten, umfaBten, innigst umschlangen; 
unter deren weit vorragenden, tief hinaus sich beugenden 
Asten wir so oft die unaussprechliche Seligkeit himmlischer 
Freundschaft, reiner, hoher Seelenliebe genossen: ach, unter 
deren schwermutrauschendem Laube ich mich von dir los- 
reiBen muBte, von dir, der du mir alles warst, der mein gan- 
zes Herz erfullte, noch erfiillt. GroBer, glitiger Gott, hattest 
du nicht das hohe Gefiihl fiir Unsterblichkeit in unsre Seele 
gelegt, uns nicht die VerheiBung eines ewigen, seligen Le- 
bens gegeben: wie wiirden Freunde, die sich so innig lieben, 
wie wiirden die sich trennen konnen, ohne unaussprechlich 
elend zu sein, ohne unter der Angst ihres Herzens zu erliegen! 

Oft saBen wir nach vollbrachtem Geschaft unter der hohen, 
heiligen Eiche, oft, sehr oft sprachlos Hand in Hand, Aug in 
Auge oder den gierigen Blick auf den sternenflimmernden, 
mondhellen Himmel gerichtet. Nicht Worte, ein kiihner, zu- 
versichtlicher Druck der Hand, ein hoher, mehr als tausend 
Zungen redender Blick, gleicher machtiger Drang zu seelen- 
voller Umarmung sagten's uns, daB unsre gleichgestimmten 
Seelen Unsterblichkeit, ewige, selige Vereinigung ahndeten, 
tief fiihlten! daB sie machtig jenen hohern Gegenden entge- 
genstrebten! Und dann schwand die Erde unter unsern Fii- 
Ben, und es war, als hatten wir keine Erdensprache. Wie hat- 
ten auch alle Sprachen der Welt, nur den kleinsten Teil der 

142 



seligen Empfindungen ausdriicken konnen, die dann unsere 
Blicke belebten! Und wann uns dann die emporsteigende 
Sonne aus diesen seligen, innigen Umarmungen weckte, o wie 
war uns dann das majestatische, herrliche Aufsteigen der ge- 
stern in Nacht versunkenen groBes, machtiges Bild unserer 
Wiederauf lebung ! Im Innersten unserer Seelen beteten wir 
dann den an, der diese holie, machtige Gefiihle in unsre un- 
sterbliche Seele legte. Machtig gestarkt in unserm Vorsatz, 
besser zu werden, nach hoherer Vollkommenheit zu streben, 
gingen wir dann an unser Geschaft. 

Oft aber auch, wenn wir unter der schwermutrauschenden 
Eiche saBen, und der Mond kampfte vor uns mit Gewolk, das 
ihn umzog, dann trubte oft der Gedanke an menschlich.es 
Elend hienieden unsere zur Wehmut gestimmte Seelen. Siehe, 
sagt' ich dann, siehe, wie soviel Tausende nach Gliickseligkeit 
jagen, und sich alle von ihr entfernen; siehe, wie der edle Un- 
gliickliche dort, auf dem rechten Wege zur Gliickseligkeit, 
stets neue tausendfache Hindernisse findet, die Bosheit, Neid, 
Verfolgung ihm in den Weg stiirzt, — ach, er wird erliegen! 
Tranen hemmten dann meine Sprache. 

Aber er, weit besser, weit starker als ich, sprach dann mit 
trostender Stimme: »Wende weg deinen Blick von jenem ver- 
worrenen, unseligen Tummelplatz menschlichen Elends, wo 
auch wir oft in unserm eifrigsten Streben, gut zu sein und 
Gutes zu wirken, aufgehalten wurden. Siehe hier den gluck- 
lichen Landmann, der doch immer noch die weit groBere An- 
zahl der Menschen ausmacht und — der weisen Einrichtung 
des groBen Schopfers sei's gedankt! — immer der groBte Teil 
der Menschen bleiben muB: siehe den, und ehe du einmal 
Elend und Verzweiflung bei ihm erblickst, wirst du tausend- 
mal Zufriedenheit, wahres Vertrauen auf Gott, Gottesliebe 
und Bxuderliebe sehen. Du weiBt, ich kenne den Landmann, 
wie ihn wenige kennen; jahrelang lebte ich ganz mit ihm, 

145 



mit vielen Tausenden unter ihnen; aber es sei dir geschworen : 
Wo ich niederdriickendes,~todliches Elend fand, da kam's von 
jenen unseligen Mensclien her, die in groBen Stadten wohnen. 
Das unvermeidliche Ubel, das oft aus dem Gange der Natur 
entsteht, weiB der Landmann mit uns ganz fremder Gelassen- 
lieit und Ergebung in den Willen dessen, der ihm seine Felder 
und Wiesen befruchtet, zu ertragen. 

Einst wanderte ich. in einer bergigten Gegend: Die steilen 
Berge waren mit herrlichen hundertjahrigen, tausendjahri- 
gen Baumen von sehr verschiedener Art, sehr verscbiedenem 
Laube bewachsen. tlber die hohe, weit ausgebreitete Eiche 
ragte die schlanke, kiihne Fichte hoch hervor, der Tanne 
dunkles Griin wurde triiber dem Auge durcb den blassen 
Schein gegeniiberstehender Birken ; Bucben umschlungen 
sich, scbwesterlich ineinandergewacbsen, und an ibren bohen 
Gipfeln sahe man noch Namenziige, die vor Jahrbunderte 
zartlich Liebende in ibre junge Rinde schnitten und sie in- 
einanderschlangen, daB sie lange ein Bild ihrer Seelenver- 
einigung blieben. Auf den Hohen und in den Talern standen 
die frucbtbarsten, gesegnetsten Felder und Wiesen in ibrer 
Bliite : Renter und Pf erd konnten sicb. unter die hoben, vollen 
Ahren verbergen. An den Anhoben weideten f ette, glanzende 
Herden : Auf den Wiesen standen Manner bis an die Brust im 
Grase und maheten. Sie waren aber nicht frohlicb, sangen 
nicht muntere Gesange; denn es war ein beiBer Tag, eben um 
die Mittagsstunde, und am Horizont zogen sicb schwarze, 
f urchterliche Wolken zusammen. Icb hatte nocb zwei Stunden 
bis nacb einem Dorfe, das tief im Tale lag. Bald wurde der 
ganze Himmel bezogen; es wurde am Mittage Nacbt, und 
plotzlicb brach der gewaltigste Sturm und Donner mit Blit- 
zen und Hagel und RegenguB machtig hervor. Icb war ge- 
zwungen, mich unter eine tausendjahrige Eiche auf den Bo- 
den zu legen. 
144 



Zwei Stunden kampf ten und tobten die Elemente, und dann 
ward's ruhiger und klar. 

Gott, welch ein Anblick! Alle Felder, alle Wiesen wie von 
tausend Mahern niedergemaht, alles Gluck, alle Hoffnung 
des Landmanns ganzlich zu Boden geschlagen; die Herden 
zerstreut, hier ein totes Lamm, dort hundert getotet. — Ich 
ware fast vergangen bei dem Anblick. Ich eilte fort, kam an 
einen hohlen, sehr steilen Weg, den Reisende sonst mit ge- 
hemmten Radern und doch nicht ohne Gef ahr hinabgleiteten. 
Und welch ein neuer^ schrecklicher Anblick! Nie sah ich so 
etwas fiirchterlich GroBes! Der Weg war verschuttet, als war 
er nie gewesen; viel tausend Baume, die am uberhangenden 
Rande bis auf die auBerste Hohe des Berges gestanden, waren 
samt ihrem Erdreich hinuntergestiirzt ; viele hatten sich in die 
Hohlung gepflanzt, standen da tief und fest, als hatten sie 
Jahrhunderte schon da gestanden; andre hatten ihre Krone 
tief in die Erde gegraben und spreuzten ihre entbloBten Wur- 
zeln gen Himmel; noch andre junge zarte Baume lagen zu 
Tausenden, vom Laube entbloBt, ubereinander auf dem Bo- 
den; andere waren von nachstiirzenden Felsenstiicken tief in 
die Erde geschlagen, so daB ihre Krone ihre Wurzeln um- 
schlangen. 

Stundenlang stand ich wie versteinert vor dem graBlich er- 
habenen Orte, bis mich eine f eine, klagende Stimme aus mei- 
nem Staunen weckte: Sie konnte nicht w r eit von mir sein; ich 
versuchte mich durchzuarbeiten und war nicht zehn Schritte 
geklettert, als ich einen lieben, feurigen Jungen von ohnge- 
f ahr sieben Jahren auf einem toten jungen Lamme schluch- 
zend und weinend liegen sah. Er hatte das kleine Lamm von 
der Herde genommen, da der Sturm einbrach, um es nach 
Hause zu tragen ; hier hatte ihn aber der Sturm ergriff en und 
zwischen die niedergestiirzten Baume geworfen. Der Junge 
war bis auf eine geringe Quetschung am Beine unbeschadigt, 

145 



aber das Lamm war erdriickt. Ich bat ihn, trostete ihn, ver- 
sprach ihm zehn andre Lammer, aber er wollt es nicht ver- 
lassen. »Nein, nein, es ist mein Lamm, meine Mutter gab's 
mir, und meine Mutter ist tot,« Das wiederholt' er unauf- 
horlich, das Lamm festhaltend, bis ich ihn samt seinem 
Lamme mit Gewalt auf den Riicken nahm und mich so mit 
auBerster Muhe und Anstrengung seitwarts durcharbeitete. 

Tiefer unten war der Weg weniger verschuttet, aber fast 
mannhoch iiberschwommen. Ich muBte warten, bis das Was- 
ser sich verzog und die Bauern hinzukamen, die Graben offne- 
ten und denSchutt wenigstens fur FuBganger wegraumten. In 
fiirchterlicher Totenstille taten sie das. Keiner sprach ein 
Wort. Seufzer und Tranen, das war alles. Auch ich hatte nicht 
das Herz, sie anzureden. Weinen konnt' ich aber noch nicht. 
Ich ging langsam meinen Gang fort und war bald am Dorfe. 

Bei dem ersten Bauernhause durchdrang mich ein Anblick 
bis ins Innerste meiner Seele. Das Haus war aus- und inwen- 
dig bis \iber die halbe Hohe der Tiire und Fenstern mit Erde, 
Sand und Steinen verschuttet, und in dieser aufgeworfenen 
Erde stand ein alter achtzigjahriger Mann mit seinem acht- 
undsiebenzigjahrigen Weibe bis iiber die Knie und arbeiteten 
mit schwachen Kraften, den Schutt aus dem Hause zu schau- 
feln. Sie hatten ihr Gesicht voneinander weggewandt, um 
dem andern nicht sehen zu lassen, wie die Tranen in dicken, 
sich jagenden Tropfen auf den Boden rollten. Ich sprang zu, 
hinein konnt' ich nicht: rief, schrie ihnen zu; allein von Weh- 
klagen schon getaubt und ganz in ihren innern Gram ver- 
senkt, horten sie mich nicht, bewarfen mich unbewuBt mit 
Erde; und doch konnt' ich nicht fortgehn. Ich schrie wieder: 
»Vater, Vater!« Da sah der Alte mich plotzlich mit starren, 
gierigen Augen an, seufzte tief aus der Brust, schlug die 
Augen wieder nieder und arbeitete heftiger weinend fort. 
»Ich will euch Hulf e holen«, rief ich, »will euch helfen, helft 

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mich nur hinein.« Da reicht' er mir, ohn' ein Wort zu reden, 
die Schaufel, und ich kletterte hinein. 

Ich: Seid ihr denn so ganz ohne Hiilfe, Alter? 

Der Bauer (mit gebrochener Stimme in einem hohlen 
Tone) : Gott hat mir drei Sohne gegeben, aber sie haben sie 
mir genommen. (Und nun konnt' er fur heftiges Schluchzen 
und Weinen nicht weiter.) 

Die Frau: Ja, Herr, die Soldaten, die Soldaten — das ist 
unser Ungluck! — was Gott tut, das ist ivohlgeta.nl — 

Denke dir den Zustand meines Herzens, wie's mir zer- 
springen wollte. Die Tranen stiirzten mir machtig die Wan- 
gen herab. Ich konnt' nicht helfen, warf einen Teil meines 
Geldes auf den Tisch und stieg hinaus zum Fenster, das nach 
dem Garten ging. 

Hinter dem Hause warf ich mich unter eine hohe Linde, 
die von alien Baumen und Gartengewachsen allein stehenge- 
blieben war, und weinte aus. Da dacht' ich wieder an den 
Jungen, der beim Eintritte ins Dorf sich von mir losriB und 
auf das Haus seines Vaters zulief : Ich sucht' ihn, konnt' ihn 
aber nicht wiederfinden. 

Ich ging drauf zum Pfarrer des Dorfs, liefi mir genau den 
Zustand der verungliickten Einwohner sagen und lief, weil 
ich nicht mehr viel Geld bei mir hatte, nach der nachsten 
groBen Stadt, wandte da all mein Wissen, all meine Kunst an, 
so viel Geld als moglich zu verdienen. 

Nach sieben Tagen kam ich wieder in das Dorf; fand alles 
herum noch ebenso wiiste; kein sanfter, wohltatiger Wind- 
hauch hatte die niedergeschlagenen Ahren erheben konnen. 
Doch war's im Dorf e selbst ziemlich auf geraumt und die Gar- 
ten schon wieder von neuem bearbeitet. Auch waren die Leute 
mir ganz unbegreiflich ruhig. 

Ich suchte gleich wieder meinem achtzigjahrigen Greis auf 
und fand in seinem Hause alles ordentlich und ruhig. Die 

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Frau saB und sponn, der Alte schnitt Stabe, urn junge, neu- 
gep'flanzte Baume, die-ihm der gute, wohltatige Pfarrer des 
Dorfs geschenkt, zu stiitzen. Sie erkannten mich nicht, hieBen 
mich niedersitzen und erkundigten sich, ob ich nichts Neues 
vom Kriege wiiBte. Ich suchte das Gesprach soviel als mog- 
lich davon abzuleiten, weil ich wuBte, was ihnen am Herzen 
nagte, weil ich sah', wie's ihnen nagte. Aber sie waren immer 
wieder da. Kein Wort entfiel ihnen iiber die letzte Verwii- 
stung. Endlich fing ich selbst davon an. Der Alte hatte sich 
mit niedergesunkenen Armen und niedergesenktem grauen 
Kopf e vor mir hingestellt. 

Ich: Habt ihr denn auch bei dem letzten Sturme Schaden 
gelitten ? 

Bauer (die Hande langsam in der auBersten Tiefe haltend 
und mit halber Stimme) : All mein Feld ist hin! 

Ich: Wovon werdet ihr nun aber den Winter leben? Wovon 
wieder saen? 

Bauer (mit zum Himmel gerichteten Augen und starker, 
zuversichtlicher Stimme) : »Weil du mein Gott und Voter bist, 
so wirst mich nicht verlassen!« — 

Hermenfried konnte vor Tranen nie weiter erzahlen. 
Ich will an einem andern Orte mehrere die Menschheit in- 
teressierende Auftritte seiner Reise erzahlen, bis ich einst der 
U Welt sein ganzes, hochst interessantes Leben darstellen kann. 

' Nach drei Jahren kam er aus dem Lande der wahren, scho- 

l;! nen Musik, bereichert mit groBen Schatzen von Kenntnis und 

! Erf ahrung, zu seinen Lieben alien zuriick. Ich wag's nicht, die 

L ersten feurigen, seligen Umarmungen mit kalten, trocknen 

t Worten zu schildern. Und vermocht ich's auch mit aller 

Wahrheit und Warme, die die Sprache nur vermag, was 
war's dennoch fur den Kalten, der's noch nie gefuhlt, nicht 
fiihlen kann? Und was gar fur den, der's gefuhlt, der's ganz 
zu fiihlen vermag ? 
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Der erste Taumel der Freude war voriiber, und nun sprach 
ibm der Vater so: (Alle waren beisammen, auch Henriette 
mit ihren Eltern und Geschwistern.) 

»Du hast bis heute alle meine Wiinsche erfiillt, mein lie - 
ber, lieber Sohn. Meine Korrespondenten haben mir aus jedem 
Orte deines Aufenthalts die umstandlichste Nachricht von 
deinem Leben mitgeteilt, und nie haV ich Ursache gehabt, 
andre Tranen um dich zu weinen als Tranen der Freude. 
Bleibe so die Freude unsers Alters und mache nun auch Ge- 
brauch von deiner Wissenschaft. Das einzige deiner Reise, 
womit ich nicht ganz vollkommen zufrieden sein kann, ist die 
gar zu stolze Art, mit der du zuweilen ein dir angebotnes Amt 
ausgeschlagen. Oft hab 9 ich deine Bewegungsgriinde, warum 
du's ausschlugst, gebilligt; aber die Art, mit der du's zuweilen 
tatst, zeigte, dafi du es schon vorher, eh es dir angetragen 
wurde, fur zu unwichtig fur dich hieltst. Hiite dich ja, mein 
Bester, fur den zu hohen Geist, der den besten und groBten 
Kiinstlern den GenuB der Friichte ihres FleiBes oft raubt! 

Ich les' es genugsam in deinen Augen, wenn ich's auch 
nicht von dir horte, daB du samt deinem lieben Madchen 
ebenso sehnlich nach hauslicher Gliickseligkeit schmachtest, 
als ich und deine Mutter in euren Jahren darnach schmachte- 
ten. Du hast recht, mein Sohn, hast den wahren Nutzen aus 
der genauern Kenntnis der Welt gezogen: Hausliche Gliick- 
seligkeit ist das einzige wahre, dauerhafte Gut des mensch- 
lichen Lebens auf dieser Erde. Sie allein gibt die Ruhe der 
Seelen, die zu gegenwartigem frohlichem GenuB des Lebens 
und zu sicherer Aussicht in die Zukunft so hochst notwendig 
ist. Man muB aber die Welt erst kennen, muB in gewissem 
Verstande daran gesattigt sein, um nicht durch falschen 
Schimmer aus der Feme von seiner gliicklichen Ruhe aufge- 
sprengt zu werden. Ich wiinsche dir Gliick zu deiner Welt- 
kenntnis, du hast sie ohne deinen Schaden erhalten. GenieBt 

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nun beide die Seligkeit des gliicklichen hauslichen Lebens 
ganz. 

Wir, eure Vater, sind aber beide nicht imstande, ohne un- 
sern eignen Nachteil und dem Nachteile eurer Geschwister 
euch in dem Stand zu setzen, daB ihr ohne eigene Arbeit be- 
quem und angenehm leben konntet; ich hoffe auch nicht, 
mein lieber Sohn, dafi du den unseligen Hang zu einem mii- 
Bigen, untatigen Leben hast: Hor also einen Antrag, den ich 
dir zu machen habe, ohne Vorurteil an : 

Der pohlnische Fiirst S ***, dem du in Rom jedes Anerbie- 
ten, mit ihm zu reisen, ihm eine Kapelle zu errichten, bei ihm 
Dienste zu nehmen, so stolz ausschlugst, weil du ihn fur einen 
unedeln Menschen hieltst, der hat sich bei seiner Zuriick- 
kunft hier an mich gewandt und mich gebeten, dich dahin zu 
bereden, daB du ihm eine Kapelle errichtest und dabei Musik- 
direktor wiirdest. Er bietet dir jahrlich vierhundert Dukaten, 
den Winter will er stets hier in Dresden zubringen, und es soil 
von dir abhangen, jedesmal mit ihm herzureisen. Den Som- 
mer iiber ist er auf seinen Giitern nahe bei Warschau. Da 
soil deine Art zu leben ganz von deinem Willen abhangen. 
Willst du mit ihm Hofleben fuhren, so sollst du einer der An- 
gesehensten an seinem Hofe sein, Tafel und alle Lustbar- 
keiten mit ihm haben; willst du aber ganz entfernt vom Hofe, 
in einem kleinen Landhause hauslich leben, so verlangt er 
weiter nichts, als daB du so viel ail Hofe kamst, wie die Or d- 
nung der Kapelle und die Auffiihrung groBer Musiken er- 
f ordert. LaB mich noch eins hinzusetzen, Lieber! 

Tragst du noch deshalb Bedenken, weil du ihn fur einen 
unedeln Menschen haltst, so erwage, daB es dem Kiinstler, 
dem seine Kunst Gewalt iiber das Herz des Menschen gibt, 
eine hochst erwiinschte Lage sein muB, bei einem machtigen, 
reichenManne, der Antrieb zu gutenTaten bedarf, dies Werk- 
zeug zu sein, das ihn zum Guten, Edlen lenkt. Du hast sein 

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Herz gewoimeii, gewinne nun auch von diesem das Gliick vie- 
ler Hunderte deiner Nebenmenschen.« 

Hermenfried hatte keine Einwendung. Er nalim das Amt 
an, verband sich. mit seiner lieben edeln Henriette auf ewig 
und waMte das ilim angetragene ruhige, vom Hof e entfernte 
landlich hausliche Leben. Vier liebe Kinder, mit die ihm Hen- 
riette in den ersten aclit Jahren ihrer Ehe beschenkte — alle 
Kinder der Liebe — , niachten das MaB ihrer Freuden iiber- 
schwenglieb voll. 

Hermenfried 'war eben auf seinem Landhause, einige Mei- 
len von der Stadt, da der Fiirst mit unserm Gulden in War- 
schau ankam. Der Fiirst muBte sicb einige Wochen in War- 
schau aufhalten und trug's gleich bei seiner Ankunft einigen 
seiner Hofleute auf, unsern Heinrich zu Hermenfried hin- 
auszuf uhren. Das geschah den nacbsten Tag. 

Die Szene in Hermenfrieds Wohnung ist wichtig genug, 
einen neuen Teil damit anzuf angen. 

Ende des ersten Teils. 



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